Delhi, 18. Februar 1893

Ich hatte den Wunsch geäußert, ein indisches Strafhaus zu sehen, worauf mir bereitwilligst Gelegenheit gegeben wurde, die Anstalt zu besichtigen, welche im Süden von Dehli gelegen ist. Wir passierten das Delhi-Tor, eines der zehn Tore, welche die 8,8 km lange Wallmauer der Stadt durchbrechen, und befanden uns nach kurzer Fahrt durch das Trümmerfeld Alt-Delhls vor dem etwa 500 Sträflinge bergenden Gefangenhaus.

Durch ein doppeltes, wohlverriegeltes Tor, das einer zweifachen Ringmauer entspricht, betraten wir den Innenraum und sahen ein förmliches Stadtviertel kleiner, ebenerdiger Gebäude vor uns, die, zur Aufnahme von Gefangenen bestimmt, von einander getrennt sind, so dass keinerlei Verkehr der Insassen untereinander stattfinden kann, während von gewissen Zentralpunkten aus eine genaue Überwachung möglich ist.

Im allgemeinen herrscht hier der Grundsatz, jeden Sträfling durch einige Zeit in Einzelhaft zu halten, bis man ihn kennen gelernt, ich möchte sagen, seinen Charakter studiert hat. In der Einzelzelle muss der Gefangene arbeiten, und zwar auf ganz primitive Weise täglich ein bestimmtes Quantum Korn mittels zweier Mühlsteine, die mit der Hand bewegt werden, mahlen. Ist sein Verhalten ein entsprechendes, so wird er zu gemeinschaftlicher Haft und Arbeit mit anderen zugelassen, hat jedoch im entgegengesetzten Fall, oder wenn es sich zeigt, dass er einen nachteiligen Einfluss auf seine Genossen nimmt, die ganze Strafzeit in Einzelhaft zu verbüßen. Besonders schwere Verbrecher, ferner solche, die schon aus einem Gefangenhaus entflohen sind, sitzen, an den Füßen mit schweren Eisenstangen gefesselt, wie wilde Tiere in
offenen, eisernen Käfigen, an deren Ende sich die ebenfalls offenen, mit hartem Lager versehenen Zellen befinden. In einer dieser Zellen kauerte ein alter Mann, der schon dreimal aus einem Strafhause ausgebrochen war. Er hatte ein Mittel ersonnen, die dicksten Eisenstäbe zu durchschneiden — Wollfäden, die er sich zu verschaffen gewusst. und eine Mischung von Öl, Sand und Glassplittern. Hiemit rieb er eine Stelle des Eisengitters so lange, bis er dieselbe durchgewetzt hatte und entweichen konnte. Wohl eine der größten Geduldproben! Zweimal war sie von Erfolg gekrönt, beim dritten Mal wurde er ertappt. Ein anderer Sträfling hatte sich aus abgekratztem Blei binnen drei Monaten einen Schlüssel konstruiert; doch wurde das kunstvolle Werkzeug im letzten Augenblick entdeckt. Einen besonders wilden Eindruck machten zwei Afghanen, deren einer wegen Mordes eingezogen, der andere wegen einer ähnlichen Übeltat zu 37 Jahren schweren Kerkers verurteilt war.

Die Einzelzellen enthalten ein Lager aus Lehm, auf das eine Strohmatte und zwei Kotzen zu liegen kommen, als Bett; die weitere Einrichtung bilden ein Trinkgefäß und die schon erwähnte Mühle.

Eine eigene Abteilung ist für Knaben bestimmt, unter denen man wahre Galgengesichter sieht; eine andere für Gewohnheitsverbrecher, welche diese heiligen Hallen schon wiederholt betreten haben; eine dritte endlich für Weiber, die einige äußerst hässliche und verkommene Individuen in ihrer Mitte zählten.

Die Kleidung der Sträflinge ist ganz gleichmäßig; sie besteht aus einem kotzenartigen Gewand, darunter einem Leinwandlappen, welcher um die Mitte des Leibes geschlungen wird. Zur Nahrung erhalten sie eine nach unseren Begriffen sehr geringe Ration, und zwar des Morgens zwei flache, ungesäuerte Brote nebst einem Achtelliter Dal (einer Art von Bohnen) mit Butter und Gewürzen, zu Mittag eine Handvoll gerösteten Weizens, abends grünes Gemüse mit zwei Broten. Und doch befinden sich die Sträflinge wohl und sehen gut aus.

Nach der Meinung des Gefängnis-Direktors soll der einzige Fehler des Strafhauses der sein, dass die Lebensweise der Sträflinge daselbst eine viel bessere ist als die, welche sie außerhalb desselben führen. Klagen wie jene des Direktors verlauten übrigens auch in unserer Heimat, wo häufig genug Vergleiche gezogen werden zwischen der Lebensführung, deren sich selbst schwere Verbrecher in den Strafhäusern erfreuen, und den Existenzbedingungen, unter welchen unsere Soldaten in den Kasernen ihrem Beruf obliegen. Ich vermag der
Ansicht die Berechtigung nicht ganz abzusprechen, dass in der humanen Behandlung der Verbrecher schwerer Kategorie zu weit gegangen und hiedurch der Strafzweck teilweise vereitelt wird.

Ich durchschritt alle Werkstätten, in welchen die Sträflinge gemeinsamer Arbeit mit den einfachsten Hilfsmitteln obliegen. Sie erzeugen Kartonnage- und Töpferwaren, Teppiche und aus einem an allen Flussufern wachsenden Gras hübsche Matten, deren ich eine große Anzahl für die Korridore von Konopist bestellte. Auch ihre Kleidung müssen die Sträflinge selbst fabrizieren.

Kostbare Zeit ging verloren, da ich mich verleiten ließ, nach der Rückkehr in die Stadt das in einem geradezu desolaten Zustand befindliche städtische Museum of the Institute nächst der Tschandni Tschaukstraße zu besichtigen. Von dem dort herrschenden Schmutz, der überall wahrnehmbaren Verwahrlosung und dem Kunterbunt von Säugetieren, Vögeln, Bildern, Gewändern, allerlei Hausrat und sonstigen ethnographischen Gegenständen sich einen Begriff zu machen, ist schwer. Immerhin war es belehrend zu sehen, wie ein Museum nicht sein soll.

On revient toujours … also noch einmal zu Tellery gewandert, um neuerlich Einkäufe, namentlich von Teppichen, zu besorgen.

Dann wohnten wir vor unserem Hotel mehreren von einigen Eingeborenen veranstalteten Hahnenkämpfen bei. Wie grausam dieses Vergnügen auch ist, so entbehrte es doch nicht der Anziehungskraft; denn mit staunenswerter Tapferkeit und Kampfeslust, ja mit Ingrimm hieben die braven Hähne mit Schnabel und Sporn auf einander ein, bis endlich einer der Kämpfer unterlegen war.

Abends entführte uns der Zug nach Alwar (Ulwar), das nordwestlich von Agra, südwestlich von Delhi, an der die Rajputana-Malwa Railway einschließenden Bombay, Baroda and Central India Railway gelegen ist, welche über Ahmedabad nach Bombay läuft.

Links

  • Ort:  Alwar, Indien
  • ANNO – am 18.02.1893 in Österreichs Presse. Die Zeitungen stimmen sich auf das 50-Jahre Jubiläum der Bischofsweihe von Papst Leo XIII  am 19. Februar 1893 ein. Es ist zudem das 15. Jahr seines Pontifikats.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater spielt „Verbot und Befehl“, während das k.u.k. Hof-Operntheater Jules Massenets Oper „Manon“ aufführt.

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