Kioto, 13. Aug. 1893

Den Sonntag zu feiern, wohnten wir der heiligen Messe in der französischen Missionskirche bei und widmeten dann den Tag, den letzten unseres Aufenthaltes in Kioto, fast zur Gänze der Besorgung von Einkäufen. Da die Ladenbesitzer zu wissen schienen, dass auf Rückkehr nicht mehr zu rechnen sei, wenn sie uns unverrichteter Dinge ziehen ließen, ermäßigten sie ihre Ansprüche.

Die Atmosphäre war rein, das Wetter herrlich — so fühlte ich mich denn gegen Abend buddhistisch angehaucht und geneigt, mich ruhiger Beschaulichkeit hinzugeben, in Betrachtung des Sonnenunterganges zu meditieren. Nach einem geeigneten Punkt suchend, entschied ich mich für das Hotel, Jaami genannt. Die Wahl erwies sich als gute, weil das Etablissement auf einem dominierenden Hügel steht und die Veranda eine weithin reichende Rundschau gestattet; auch der Sonnenuntergang war nach Wunsch. Für einige Stunden ließ ich mich hier zur Ruhe nieder und weidete mein Auge an dem Panorama. Unter uns liegen die ernsten Tempelhaine mit ihren gewaltigen Cryptomerien, erstreckt sich die Stadt, aus deren Meer von Dächern die Tempel aufragen wie stattliche Schiffe aus der ruhigen See; in der Ferne schimmern die sanft gewellten Hügelketten im Glanz der scheidenden Sonne. Ich saß, sann und träumte von Kiotos ruhmvollen Zeiten, von den Glanzepochen des alten Japan, von den gewaltigen Kämpfen, in welchen das Inselvolk sich heldenhaft durch Jahrhunderte hindurchgerungen — bis mein Auge an rauchenden Fabriksschloten haften blieb und ich durch diesen ärgerlichen Anblick daran gemahnt wurde, dass auch für Japan die Epoche der europäischen Zivilisation angebrochen ist, deren Grundzug die Nüchternheit ist.

Wir blicken nicht mehr zu Idealen, sondern zu Fabriksschloten empor, und Japan hat bereits gelernt, uns nachzublicken. Weit entfernt, die Bedeutung dieser wichtigen Bauten zu verkennen und ihnen die gebürende Hochachtung zu versagen, fühle ich doch, wie in mir, wenn so ein kecker, junger Schlot von heutzutage neben einem greisen Tempel, der Jahrhunderte kommen und verschwinden gesehen, naseweis emporragt, der Widerspruch gegen eine Profanation rege wird und der Egoist erwacht, welcher im Genuss des Schönen, des Ehrwürdigen nicht durch den Anblick des nur Nützlichen gestört sein will. So mancher Japaner wird, und mit Recht, stolz die Errungenschaften Europas überschauen, welche sein Vaterland sich in so kurzer Zeit angeeignet, aber wenn die alten Sektenstifter und Tempelgründer aus ihren Gräbern erstünden, zu sehen, was aus ihrem Japan geworden, und dem alten Buddha zu Nara erzählten, was sie geschaut, ich glaube der Daibutsu würde sein Haupt schütteln, dass er es von neuem verlöre.

Links

  • Ort: Kyoto, Japan
  • ANNO – am 13.08.1893 in Östereichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Die Walküre“ aufführt.

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