Nagoja — Kosu, 15. Aug. 1893

Nagoja war nur als Nachtstation ausersehen, aber wir machten, zur Bahn fahrend, einen Umweg, um einen flüchtigen Blick auf das Kastell zu werfen und einen, wenn auch nur in den allgemeinsten Umrissen gehaltenen Eindruck von der Stadt zu empfangen. Diese liegt am rechten Ufer des Flüsschens Schonai und unweit der Owari-Bai, offenbart sich sofort als eine blühende Provinzstadt und war einst der Sitz der Fürsten von Owari, deren Haus durch einen Sohn Ijejasus begründet worden ist.

179.000 Einwohner zählend, ist Nagoja die viertgrößte Stadt des Landes und Hauptort des Departements Aitschi, sowie der Provinz Owari, welche zu der Landschaft des Tokaido gehört, das ist der Ostseestraße, der berühmten Landstraße zwischen Tokio und Kioto. In der Ebene gelegen, entbehrt die Stadt landschaftlich schöner Umrahmung, macht aber selbst einen ansprechenden Eindruck, nicht zum wenigsten, weil allenthalben in den zahlreichen, wohlausgestatteten Läden die Zeugnisse des strebsamen Gewerbefleißes ihrer Bewohner zutage treten.

Das Kastell, O Schiro, im Jahre 1610 als Residenz für Ijejasus Sohn gegründet und in der Anlage an die festen Burgen von Kumamoto und Osaka erinnernd, wurde ungeachtet der künstlerischen Ausstattung seiner Innenräume, nach dem gewaltigen Umschwung der Dinge in Japan dem Militär überantwortet, um später eine sachgemäßere Pflege durch das Departement des kaiserlichen Haushaltes zu finden. Der Raum zwischen dem äußeren und dem inneren Wall, vormals das Quartier der fürstlichen Samurais, umfasst jetzt Militärbaracken und Exerzierplätze. Von der Spitze des fünf Stockwerke hohen Donjons glänzen weithin über die Stadt zwei goldene Delphine, 26 m hoch und auf 462.800 fl. ö. W. geschätzt, welche im Jahre 1610 auf Kosten des berühmten Generals Kato Kijomasa, des Erbauers des Donjons, hergestellt wurden. Der eine dieser Delphine hat ein merkwürdiges, überraschenderweise mit Wien zusammenhängendes Schicksal gehabt, indem er, zur Wiener Weltausstellung gesandt, auf dem Rückweg mit dem Dampfer „Nil“ versank, jedoch mit Überwindung großer Schwierigkeiten wieder gehoben und an seiner alten Stelle angebracht wurde.

Von Nagoja ab beschreibt die Bahnstrecke einen gewaltigen Bogen zuerst in südöstlicher Richtung bis Hamamatsu, dann nordöstlich gewendet über Schisuoka bis Iwabutschi, um von hier bis Numasu östlich zu verlaufen. Die Trace zieht sich im großen und ganzen die Küste des Stillen Ozeans entlang, der durch den Tokaido vorgezeichneten Richtung folgend; hochstämmige Cryptomerien und Zypressen säumen diese uralte Verkehrslinie, die häufig an die Bahn herantritt, ein. Auf der ganzen Strecke ist der Schienenstrang über zahllose, elegant gebaute Brücken geführt, welche eine Reihe größerer und kleinerer Flussläufe, Brackwassersümpfe, Lagunen und Buchten überqueren. Unmittelbar vor der Station Maisaka setzten wir auf einem endlos scheinenden Systeme von Brücken und Deichen über den See oder richtiger die Bucht Hamano hinweg, um bald nachher auf einer zu den Musterbauten Japans gerechneten, gewaltigen Brücke den Tenriu-gawa zu überschreiten.

Im ersten Teil der Fahrt bilden unabsehbare Reiskulturen, unterbrochen von Bambushainen, den Grundzug der Gegend, welche stellenweise einem Garten gleicht, aber keine landschaftlichen Reize bietet; wo die Bahn sich der Küste nähert, gewinnt das Bild ein lebhaftes Colorit durch Ausblicke auf die See. Später ändert sich die Szenerie; denn Hügelketten reichen aus dem Innern des Landes weiter hervor, gleichsam als wollten sie den Schienenstrang immer mehr gegen die See hindrängen. Bald treten wir in den Bereich des japanischen Hochgebirges; denn die Bahn berührt den Fuß des mächtigen Fudschi und umfahrt das Hakone-Gebirge.

Wer kennt nicht den Fudschi-san oder Fudschi-no-jama, in Europa meist Fusijama genannt, dieses Wahrzeichen Japans, welches uns als einer der beliebtesten Vorwürfe japanischer Kunst auf Lackarbeiten, auf Porzellan, auf Papier, in Holz und in Metall entgegentritt? Als heiliger Berg, zu dessen Gipfel alljährlich Tausende von Pilgern wallen, als alter Vulkan, der seit dem Jahre 1707 Landfrieden gehalten, erhebt sich der Fudschi, für den höchsten Berg Japans gehalten, zu 3760 m Höhe, isoliert, auf breiter Basis kegelförmig aufragend. Leider wurde die Spitze des uns aus hundertfältigen Nachbildungen geläufigen Originales sowie der anderen Höhen durch einen leichten Nebelschleier verdeckt. Immerhin bildete es einen wirksamen Kontrast, linkerhand zu dem gewaltigen Bergmassiv emporzublicken, rechterhand die Brandung des Stillen Ozeans und weithin die See mit den zahlreichen Fahrzeugen, deren Segel eine frische Brise blähte, zu überschauen.

Einem Wall gleich, sperrt das Hakone-Gebirge den Eintritt in den Kwanto, das ist den Osten des Tores, in die Tiefebene der Reichshauptstadt, gegen welche der Tokaido über den Hakone-Pass und eine Reihe anderer Übergänge führen. Hier auf dem Hakone-Pass befand sich unter der Tokugawa-Herrschaft die große, Kwan (Tor) genannte Wache, welcher die Sicherung der Zugänge zur Ebene oblag. Allenthalben öffnen sich freundliche Täler und tief eingeschnittene Schluchten, welchen rauschende Flüsschen und Bächlein entquellen. Wenn jene immerhin respektablen Gebirge, einschließlich des imponierenden Fudschi, auf uns nicht den Eindruck des Hochgebirges machen, so liegt der Grund wohl in der abgerundeten, zarteren Formation, während wir gewohnt sind, mit dem Hochgebirge die Vorstellung von steil aufragenden, schroff abfallenden, kantigen, rissigen Felsgebilden zu verbinden.

Leider wurde der Genuss der an uns in wechselreichen Bildern vorbeiziehenden Landschaft arg gestört durch die Nachwirkungen der schlechten als Heizmaterial verwendeten Kohle, deren Staub alles bedeckte, wie denn auch in anderer Hinsicht noch nicht in europäischer Weise für den Komfort der Reisenden gesorgt ist.

In Kosu, einem beliebten Badeort, verließen wir den Zug, um uns nach der Sommerfrische Mijanoschita in dem an Thermen reichen Hakone-Gebirge zu begeben, bevor wir uns in Tokio in den Strudel der offiziellen Festlichkeiten stürzten. Ein Teehaus, welches Ausblick auf die brandende See hat, nahm uns durch kurze Zeit gastlich auf, bis wir die Fahrt nach Mijanoschita mittels Tramway antraten, die uns in westlicher Richtung dem Tokaido folgend, nach Überquerung des Sakawa-gawa und eines kleinen Baches zunächst nach Odawara brachte, dem Hauptort der Provinz Sagami und einstens verknüpft mit dem berühmten Haus der Hodschos, welches hier von dem gewaltigen Taiko-sama im Jahre 1590 vernichtet worden ist. Gegenüber den Ruinen des Schlosses von Odawara wurden die Pferde gewechselt, während die Leute hier wie anderwärts aus den Häusern liefen, uns neugierig zu betrachten, da unser Aufzug einigermaßen komisch sein mochte. Der Kutscher, welcher meinen Wagen lenkte, versah diese Aufgabe im Frack und in weißer Kravatte, sowie mit hohem Zylinder angetan und zog, von der Wichtigkeit seiner Funktion durchdrungen, die Bremse jeden Augenblick an, dass die armen Pferde den Wagen nur dampfend und keuchend vorwärts brachten; der Leibjäger aber spielte, in voller Parade, mit Sturmhut und Schwert ausgerüstet, rückwärts auf dem Wagen den Conducteur.

Wir überschritten den Haja-gawa und waren nicht lange nachher in Jumoto angelangt, wo wir die Tramway mit Dschinrickschas vertauschten, welche sich, von je drei Läufern gezogen, alsbald gegen Mijanoschita zu in Bewegung setzten und der Bergstraße folgten, die sich dem windungsreichen Tal des rauschenden Flusses anschmiegt. Jumoto, ausgezeichnet durch eine heilkräftige Schwefeltherme, ist eine Sommerfrische mit zahlreichen, zierlichen Häuschen, welche, an die Lehne des Bergzuges gebaut, im Sommer kühlen, angenehmen Aufenthalt bieten mögen.

Unser Pfad führt in Serpentinen am rechten Flussufer steil hinan, während tief unter uns, von Bäumen fast verborgen, der Haja-gawa dahinströmt; die Lehne, welche uns die wackeren Läufer emporschleppen, zeigt Baumwuchs, während die gegenüberliegende, die sonnseitige, wie wir in der Heimat sagen würden, baumlos und nur von hohem Grase bedeckt ist, da offenbar auch hier schonungslos abgestockt, aber auf Wiederaufforstung nicht Bedacht genommen wurde. In anmutiger Weise ist die Szenerie dadurch belebt, dass, wo immer ein Quell dem Felsen entsprudelt, ein Teehäuschen den Wanderer aufzunehmen bereit ist und fröhlich blickende Musumes dem Ermüdeten Tee zur Stärkung reichen.

Bei Tonosawa, etwa im ersten Drittel des Weges gelegen und gleichfalls im Besitz heißer Quellen, bleibt das Auge an einem weißen, auf dem gegenüberliegenden Hügel errichteten Bauwerk haften, welches mir als eine griechisch-orthodoxe Kapelle, gestiftet von einer russischen Gräfin, die lange in Japan gelebt hat, bezeichnet wurde; doch soll sich die Mission jenes Bekenntnisses keiner besonderen Erfolge erfreuen.

Wir waren über 400 m emporgefahren, als wir gegen 7 Uhr abends Mijanoschita erreichten, den Badeort, welcher um seiner Quellen und der reinen Luft sowie der angenehmen Spaziergänge willen viel gepriesen ist und, soweit ich überblicken konnte, eigentlich nur aus Hotels und hiezu gehörigen anderen Häusern nebst einigen Kaufläden besteht. Meine Erwartungen waren durch Schilderungen zu hoch gespannt worden, so dass ich mich einigermaßen enttäuscht fand; die Gegend kann nicht Anspruch erheben, fesselnden landschaftlichen Reiz zu bieten oder durch charakteristische Gebirgsformation besonders ausgezeichnet zu sein.

Die Ansiedlung selbst ist, wenigstens was das große Hotel, in dem wir untergebracht waren, anbelangt, ganz europäisch eingerichtet und auf Engländer sowie Amerikaner berechnet, und nur die Bedienung durch weibliche Kräfte erinnert an Japan, ohne welche ich ebensogut glauben konnte, mich in einem Schweizer Etablissement zu befinden. Ich war von dem Wunsch erfüllt gekommen, in der Landschaft und in der Ansiedlung Original-Japan — Hochgebirge mit japanischen Alpenhütten — zu finden, und ein gemütliches Stilleben, wie in Mija-schima unvergesslichen Andenkens, hatte mir vorgeschwebt, während ich nun in einer Allerweltslandschaft ein fashionables Hotel fand, in welchem der Klang des Gongs zu Breakfast, Lunch und Dinner rief und englische Laute ertönten. Hingegen wirkten der völlige Mangel sich verneigender Würdenträger und die frische, erquickende Bergesluft erfreulich.

Ich schlenderte noch einige Zeit in der weithin sich ziehenden Talschlucht umher, nebenbei von der Absicht geleitet, etwas von der Fauna, namentlich Wild dieser Gegend zu Gesicht zu bekommen und zum mindesten Vögel singen zu hören — aber vergeblich. Nur die gemeine Krähe war häufig zu sehen, obschon ihrem Geschlecht völlige Vernichtung geschworen sein soll, seit sich einer dieser Vögel gegen einen im Garten seines Schlosses lustwandelnden Mikado unehrerbietig benommen hat und daher die aller Ehrfurcht und Etiquette baren Tiere durch ein Edikt in Acht und Bann getan worden sind. Zwar sind Japan interessante Raubtierarten sowie eine Hirsch- und eine Antilopenart eigen, worauf zu jagen mir ebenso erwünscht gewesen wäre, wie auf die allenthalben vorkommenden Fasanen; doch befanden wir uns weder in der richtigen Saison, noch auch wäre es mit Rücksicht auf das Reiseprogramm möglich gewesen, dem Waidwerk zu obliegen, so dass die Büchse in Japan ruhen musste.

Die Schwefelquellen, welche nachhaltige Wirkung wider allerlei Leiden haben sollen, sind hier in ein großes Badeetablissement japanischen Charakters geleitet.

Links

  • Ort: Miyanoshita, Japan
  • ANNO – am 15.08.1893 in Östereichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater das Ballet „Cavalleria Rusticana“ aufführt.

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