Numea, 3. Juni 1893

Auf der heutigen Tagesordnung stand ein reichhaltiges Programm. Des Morgens um 8 Uhr holte mich der Gouverneur in seinem Boot zur Besichtigung der Strafanstalt ab, welche auf der Insel Nu dort errichtet wurde, wo sich 1864 das älteste Strafdepot befunden hatte. Hier werden, wie schon erwähnt, die schwersten Verbrecher sowie vorzugsweise solche angehalten, die sich während der Haft auf der Insel eine Handlung zuschulden kommen ließen, welche eine Verschärfung oder Verlängerung der Strafe nach sich zieht; außerdem sind in dieser Anstalt die aus Frankreich oder aus den Kolonien neu ankommenden Sträflinge jeweils bis zu dem Zeitpunkt untergebracht, in welchem sie nach den verschiedenen Plätzen der Insel abgeführt werden können.

Nach einer halben Stunde landeten wir bei dem Garten, welcher dem Direktor der Anstalt eingeräumt ist. Dieselbe besteht aus einer großen Anzahl umfangreicher, zerstreut liegender Etablissements, die wir unter Führung des Direktors der Besichtigung unterzogen. Wir begannen mit der kleinen Militärkaserne, welche durch eine Abteilung von 100 Mann Marine-Infanterie unter Kommando eines Kapitäns belegt ist, und besahen dann mehrere Werkstätten, in welchen Sträflinge verschiedene Handwerke betreiben, so die Bäckerei, Schlosserei, Tischlerei u. dgl. m. Auch in dieser Strafanstalt sind, wie in Montravel, die Häuser, worin die Gefangenen nachts untergebracht werden, in langen Reihen nebeneinander angeordnet; nur sind hier die Gebäude mit hohen Umfassungsmauern umgeben. Die Mitte des Gebäudekomplexes nimmt der Richtplatz ein, auf dem gegebenenfalls die Guillotine errichtet wird; den Hinrichtungen müssen alle Sträflinge kniend beiwohnen, während hinter ihnen Soldaten mit geladenen Gewehren Stellung nehmen.

Oberhalb der Sträflingshäuser erhebt sich ein mächtiges, fensterloses Gebäude, in welchem kleine, zur Aufnahme der schwersten Verbrecher und namentlich der Rückfälligen bestimmte Zellen angeordnet sind; diese enthalten hölzerne, mit je einer Decke ausgerüstete Lagerstellen, an welche die Sträflinge mit Eisenbarren gefesselt werden können. Zu meinem Erstaunen fand ich bei einzelnen Sträflingen in jenen Zellen Bücher. Die Strafhaus-Direktion trägt sich gegenwärtig mit dem Plan, für die schwersten Verbrecher andere Räume, und zwar solche ohne Lagerstelle in Anwendung zu bringen, in welchen der Sträfling daher auf nacktem Boden ruhen muss und überhaupt keinerlei Begünstigung genießt.

Die erste Zelle, deren eiserne Türe mir geöffnet wurde, war jene des sechsfachen Mörders, dessen Schicksal von der noch ausständigen Entscheidung des Präsidenten der Republik abhing. Als der Gouverneur in meiner Gegenwart an den dem Tode geweihten Sträfling einige Fragen richtete, legte dieser ein freches Benehmen an den Tag und gab recht unverschämte Antworten. Der Missetäter war an einem Fuß gefesselt; das andere Bein, welches bei dem letzten, von ihm gegen einen Wächter unternommenen Attentate durch einen Revolverschuss verletzt worden ist, stak in einem Verband. Ein noch junger Mann von kräftigem, fast herkulisch erscheinendem Körperbau, hatte der Deportierte seine Verbrecherlaufbahn mit der Ermordung seiner Geliebten begonnen.

Ich ließ mir fast alle Zellen des Gebäudes öffnen und machte die Wahrnehmung, dass die Insassen sich ausnahmslos durch unverschämtes Verhalten auszeichneten, welches in ihren Antworten zum Ausdruck gelangte; wahre Galgenphysiognomien, von welchen Verbrechen und Laster herabzulesen waren, verrieten, dass wir dem Auswurf der Menschheit gegenüberstanden.

Ein Teil der Bewohner dieses Hauses reift hier wohl der Guillotine entgegen, welche uns nun gezeigt wurde. Ich hatte dieses ernste Rüstzeug irdischer Gerechtigkeit noch nie gesehen und konnte mich bei seinem Anblick eines peinlichen Gefühles nicht erwehren, nicht zum wenigsten deshalb, weil alle die Greuel der großen Revolution, welchen die grässliche Maschine gedient, an meinem Geist vorbeizogen. Der Scharfrichter, ein ehemaliger Sträfling, ein recht widerlicher Kerl, demonstrierte das Anbinden des Delinquenten an das schauerliche Brett und erklärte den Mechanismus der Maschine. Endlich ließ der Nachrichter das Fallbeil auf ein Bündel Schilf herabfallen, welches durch das wuchtig niedersausende Richtschwert scharf durchgehauen wurde. Hiezu machte das Scheusal recht zynische Witze und überreichte mir schließlich lachend seine Photographie, unter welcher der Name des Conterfeiten sowie die Worte standen: „Executeur des hautes oeuvres“.

Wir besahen noch das Magazin mit allen Vorräten und Werkzeugen für den Straßenbau und schritten dann dem einige Kilometer entfernten Spital zu, welches, unter Aufsicht barmherziger Schwestern stehend, etwa 150 Kranke birgt und, in schöner, gesunder Lage am Rand des Meeres erbaut, musterhaft gehalten ist, insbesondere was Reinlichkeit und Ordnung anbelangt.

An das Spital schließt sich eine Anstalt für Geisteskranke mit einem großen Garten, in welcher für diese unglücklichen Menschen so gut als möglich gesorgt zu sein schien. Bei meinem Besuche spielten sich daselbst Szenen ab, wie in anderen Irrenhäusern; denn die armen Kranken kamen auf uns zu und hielten Ansprachen, stellten sich als Könige von Spanien und von anderen Ländern vor, erklärten, dass sie hier unrechtmäßigerweise als Irre zurückgehalten würden, und gaben dergleichen Äußerungen trauriger Geisteszerrüttung mehr kund. Ein Mann, der mitunter an Tobsuchtsanfällen von solcher Intensität leidet, dass er Eisenstangen von der Dicke eines Daumens zu brechen vermag, schenkte mir eine von ihm sehr nett und gefällig gewobene Decke.

Diesen düsteren Ort verlassend, fuhren wir in der Barkasse und dann mit Wagen zu dem eine halbe Stunde Weges von Numea entfernten Landhaus des Gouverneurs, um hier einem mir zu Ehren von M. Gallet, dem Chef des Dienstes für die Angelegenheiten der Eingeborenen, arrangierten Pilu-Pilu, das ist einer musikalisch-choreographischen und kriegerischen Produktion Eingeborener, anzuwohnen. Unter einem Zelt, das auf einem sonst dem Lawn Tennis-Spiele gewidmeten Platz aufgeschlagen war, genossen wir das ebenso fremdartige als anregende Schauspiel.

Zwei Gruppen, aus je etwa fünfzig Eingeborenen von Montfaue und von Huailu bestehend, führten gemeinsam unter Gesangsbegleitung einen Totentanz auf. Diese Gruppen wechselten in der Vorführung einer Reihe von Tänzen ab, um hierauf das Feld den Eingeborenen von Bai zu räumen, welche sich gleichfalls durch Tänze und Gesänge hervortaten, worauf die Eingeborenen von Montfaue noch einen Gesang anstimmten, der Episoden und Erinnerungen aus 1878, dem Jahre des Aufstandes und Krieges, zum Gegenstand hatte. In diesen Kämpfen stand der Stamm der Unua auf Seite der Franzosen. Einer des Stammes, der Häuptling namens Dui, errang hohe Berühmtheit dank der Tollkühnheit, welche ihn im Kampf gegen die aufständischen Eingeborenen auszeichnete.

Die Angehörigen jedes Volksstammes unterschieden sich in ihrem Äußeren von jenen der anderen Stämme nur durch unwesentliche Merkmale; auch ihre Tänze und Gesänge glichen einander. Alle Darsteller, schön gewachsene und große Männer, waren in vollem Kriegsschmuck mit langen Speeren und schweren Keulen erschienen, während die Häuptlinge, um etliche Zentimeter an Kleidung mehr als bei der gestrigen Jagd an sich tragend, überdies mit Beilen aus Serpentinstein bewehrt waren. Weiße Hahnenfedern sowie Kämme, ins dichte krause Haar gesteckt, dienten als Kopfputz.

Die Tänze, deren Präzision jedem wohlgedrillten Corps de ballet zur Ehre gereicht hätte, wurden mit wildem, immerhin aber rhythmischem Gesange begleitet, in dessen Verlaufe die Sänger Tierstimmen und Naturlaute täuschend nachahmten. Die choreographischen Produktionen — jede einzelne Bewegung wurde von allen Tänzern zugleich ausgeführt — waren teils Totentänze, also religiös-zeremoniellen Charakters, teils Kriegstänze, teils Darstellungen von Gefühlen, Verrichtungen, Gebräuchen, Maschinen u. dgl. m. Da gab es, in kühnen Pas und Bewegungen ausgedrückt und vorgeführt, zu sehen: Flederhunde, Rinder, die Liebe, Kriegskanus, ein Taro-Erntefest, die Jagd, die Fischerei, das Pferd in Freiheit, die Schiffsschraube, den Europäer, wie er mit dem Finger droht, den am Arme Verkrüppelten, ja selbst die Signale des Semaphors und die Vornahme einer Landvermessung — für einen Balletmeister eine wahre Fundgrube überraschender, neuer Effekte.

In ihren Liedern bringen die wilden Künstler teils harmlose Anschauungen und Aufforderungen, teils energischere, feindselige und kriegerische Gedanken, ja sogar Blüten einer anthropophagen Lyrik zum Ausdrucke; letzteres ist namentlich in den aus den Episoden des Jahres 1878 geschöpften Gesängen der Montfaue der Fall. Was aber auch im einzelnen der Inhalt dieser Ergüsse sein mochte, immer war er in seiner ganzen Ursprünglichkeit dem Gesichtskreis eines Naturvolkes entnommen und in die naivste Form gekleidet: „Bereitet Euch zum Tanz (Nipagüeü-nipagüeü)! — Zahlreich seid Ihr, beginnet alle! Tanzet den Nequipin! — Setzet ein Kanu im Fluss aus! — Lasset von der Überschwemmung Magere und sein Schiff hinwegtragen! — Bereitet Euch zum Kampf! — Stoßet den Kriegsruf aus! — Wir wollen den Häuptling Dui töten! — Ich will seinen Bruder Meino in zwei Stücke schneiden! —“ u. dgl. m.
Die Produktionen erregten hohes Interesse, nicht bloß weil sie einen Einblick in die Bedeutung von Tanz und Gesang für den Naturmenschen gestatteten, dem sie ein nie versagendes Ausdrucksmittel seiner Strebungen, Stimmungen und Gefühle sind, sondern auch, weil aus den Aufführungen scharfe Beobachtungsgabe und ausgesprochenes Talent zur Wiedergabe des Aufgefassten sprach und daher ein Schluss auf die nicht gewöhnliche Intelligenz der wilden Künstler gezogen werden konnte. Höchst bemerkenswert war auch die Ausdauer und die Verve, mit der getanzt und gesungen wurde, sowie der Ingrimm, welcher mitunter aus den Physiognomien der Tänzer leuchtete.

In dem hierauf folgenden Speerwerfen leisteten die Eingeborenen nichts Hervorragendes, wohl weil sie vom Tanz erschöpft und erregt waren, so dass mancher Speer sein Ziel verfehlte; hingegen war das Schleudern von Steinen sehr originell. Die Insulaner legen harte Steine, die sie mit großer Mühe an beiden Enden konisch zuspitzen, auf einen aus Fasern gewundenen und in eine Schleife gedrehten Strick, welchen sie einmal scharf im Kreise schwingen, so dass der Stein abschnellt und dem Ziel auf weite Entfernung mit Vehemenz zufliegt; sausend kommt das Geschoss geflogen und schlägt selbst ziemlich dicke Bretter durch. Diese Schleuder wurde früher in den unaufhörlichen Kämpfen der einzelnen Stämme wider einander als gefährliche Waffe verwendet.

An diese Produktion reihte sich ein Pilu-Pilu Eingeborener von Lifu, der größten der Loyalty-Inseln. Die Gesichtszüge dieser ebenfalls mit polynesischem Blute vermischten Insulaner sind schöner als jene der Eingeborenen der Insel Neu-Caledonien; auch sollen erstere intelligenter und dem Verkehre mit Europäern zugänglicher sein, als letztere. Zum Unterschiede von den Neu-Caledoniern waren die Lifuesen in den schreiendsten Farben, meist zinnoberrot und lichtblau bemalt; selbst die Gesichter hatten sie ganz beschmiert, und einzelne der Künstler trugen fratzenartige Masken. Die Lifu-Insulaner produzierten sich in zwei Gruppen, deren eine unter Gesangsbegleitung einen Tanz der Krieger in drei Figuren aufführte, während die andere ebenfalls mit Gesang und Tanz eine Episode aus dem Familienleben eines alten Dämons darstellte. Letztere Produktion, anfänglich von einförmigem Gesang begleitet, ging plötzlich in wilde, pantomimische Bewegungen über, die aber nur von einigen Künstlern ausgeführt wurden, während die übrigen sich niederkauerten und schreiend in die Hände klatschten.
Diese Aufführung trug erotischen Charakter an sich, da sie die Entführung des Weibes eines alten Dämons durch mehrere junge Dämonen behandelte. Diese treten auf und suchen das Weib durch allerlei verlockende Schilderungen dem alten Dämon abwendig zu machen, dessen warnende Stimme fruchtlos verhallt. »Komm mit uns, unser Land ist schön, und die Wege dahin sind gut« singen die jungen Dämonen. Auf das „Schenke jenen nicht Gehör“ des ängstlichen Alten singt das lockere Weib „Ich folge Euch nach“, so dass dem verlassenen Alten auf die etwas überflüssige Frage „Wo ist jetzt mein Weib?“ nur die traurig resignierte Antwort bleibt „Ich habe es verloren..!“ Die Schaustellung hätte sich für Damen nicht sonderlich geeignet, denn die wilden Künstler erfreuten sich einer recht üppigen, ja geradezu zügellosen Phantasie und manche Wechselgesänge, so insbesondere jener des Weibes mit den jungen Teufeln, ließen an Komik und Drastik nichts zu wünschen übrig.

Hiemit war das Programm des Vormittages gänzlich erschöpft. Ich kehrte daher an Bord zurück, während meine Herren die Stadt durchwanderten und daselbst für mich den Ankauf einer ganzen Serie ethnographischer Objekte besorgten.

In dem durch Lampions und Gasflammen taghell beleuchteten Regierungsgebäude, an dessen Eingang ein großer Triumphbogen erglänzte, gab mir der Gouverneur ein Gala-Diner, dem etwa dreißig Würdenträger von Numea zugezogen waren, hierunter der Bischof, der Conseilspräsident, die Schiffskommandanten, der Oberst des Infanterieregimentes, verschiedene Räte und andere Beamte. Ganz im Einklang mit der langen Dauer des Jagdfrühstücks, währte auch das Diner geraume, Zeit, so dass dessen Ende nach zwei Stunden noch nicht abzusehen war. Als der Champagner kredenzt ward, erhob sich der Gouverneur, um einen zwar langen, aber recht guten, warm empfundenen Toast auf Seine Majestät und mich auszubringen, worauf ich mit einigen Worten erwiderte. Die Tafelmusik wurde durch eine aus Sträflingen zusammengesetzte Kapelle besorgt; als Aufwärter hatten, so schien es wenigstens, ebenfalls Deportierte Verwendung gefunden, die wohl nur zu leichteren Strafen verurteilt waren und, der festlichen Gelegenheit entsprechend, an Stelle des Sträflingskleides tadellose Livreen trugen.

Nach dem Gastmahl, von dem wir uns erst in später Nachtstunde erhoben, geleitete mich M. Picquie in ein Nebengemach, um mir eine hier aufgelegte Sammlung kanakischer Waffen und Fetische zu zeigen und, zu meiner angenehmen Überraschung, anzubieten, eine Liebenswürdigkeit, für welche ich dem Gouverneur umso mehr Dank weiß, als diese Sammlung einige durch ihre Seltenheit kostbare Stücke enthält und so eine äußerst wertvolle Bereicherung meiner bisherigen Erwerbungen darstellt.

In dem hell beleuchteten Garten folgte noch eine Tanzproduktion der Loyalty-Insulaner, welcher ein zahlreiches Publikum beiwohnte, weil der Gouverneur auch den Stab der „Elisabeth“ sowie die Stäbe der französischen Kriegsschiffe geladen hatte. Die Schaustellung ähnelte jener des Vormittages, nur begleiteten die Wilden ihre Tänze mit den Klängen recht primitiver Musikinstrumente, einer Art von Trommeln, die aus Blättern und Pflanzenfasern gefügt waren.

Dann nahmen wir vom Gouverneur Abschied, versicherten ihn unseres lebhaften Dankes für den höchst zuvorkommenden, geradezu herzlichen Empfang, welchen er uns bereitet, sowie für seine erfolgreichen Bemühungen, unseren Aufenthalt auf Neu-Caledonien, der Kürze desselben ungeachtet, so angenehm und so lehrreich als möglich zu gestalten, und gaben nochmals dem hohen Interesse Ausdruck, das wir an dieser Insel genommen hatten.

Links

  • Ort: Numea, New Caledonien
  • ANNO – am 03.06.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater spielt „Der letzte Brief“, während das k.u.k. Hof-Operntheater vom 1. Juni bis 19. Juli geschlossen bleibt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Solve : *
20 − 12 =


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.