Calcutta, 4. Februar 1893

Am frühen Morgen wollten wir den berühmten Tempel Käli-Ghat besuchen, in dem seinerzeit Menschen geopfert wurden, jetzt aber nur mehr schwarze Büffel und Ziegen dargebracht werden. Wir kreuzten zu diesem Zweck ein mir noch unbekanntes Viertel der Native-Stadt mit zahlreichen Bazars, in welchen kleine Bilder von Hausgöttern verkauft werden. Der Tempel ist der schwarzen Göttin Käli, der Gemahlin Schiwas gewidmet, welche der Sage nach von ihrem Gatten in der Lufi zerrissen worden sein soll. An der Stelle, wo einer der Finger Kalis zur Erde gefallen war, ist späterhin der Tempel Käli-Ghat errichtet worden.

Der Name des Tempels bedeutet »Stufe (Ghat) zu Kali«. Auf dasselbe Wort wird übrigens auch der Name Calcuttas zurückgeführt, der im Laufe der Zeit aus Kali-Ghat in Kalkota, Kalikut, Golgota, ja mit Rücksicht auf die Sterblichkeit im alten Calcutta sogar in Golgatha (Schädelstätte) verwandelt wurde. Nach der Ansicht anderer Linguisten hat der Name Calcutta ursprünglich Kalikschetra gelautet. Nebenbei bemerkt, stammt unsere Benennung des Truthahnes als calicutisches Huhn von Calicut an der Malabarküste.

Leider sahen wir uns bei der Ankunft arg enttäuscht, da uns bedeutet wurde, dass die Tieropfer erst später stattfänden, und die Brahmanen uns den Eingang in den Tempel verwehrten. Schon unsere Anwesenheit im Vorraum desselben schien einigen Anstoß zu erregen, da etliche alte Weiber, die eben mit Opfergaben für die Göttin herbeigekommen waren, über den Anblick der Ungläubigen derart erschraken und unwillig wurden, dass sie laut schimpfend umkehrten. In der Vorhalle sahen wir wenigstens die in den Boden gerammten Holzgabeln, in welche die Köpfe der Opfertiere eingezwängt werden. Es gilt als günstiges Omen für die Erfüllung der Bitte des Opfernden, wenn der Brahmane den Kopf des Tieres mit einem Hieb vom Rumpf trennt, während dem Gegenteil eine ungünstige Bedeutung zugeschrieben wird. Die Leute geben sich daher auch alle Mühe, den Hals des Opfers so viel wie möglich zu spannen, um den Hieb zu erleichtern, wobei natürlich manche Tierquälerei unterläuft. Der schlachtende Brahmane soll bald zu bedeutendem Vermögen gelangen, da er für Opferungen. wie man mir sagte, bis zu 1000 Rupien im Tag erhält.

Für 9 Uhr stand die Besichtigung der königlichen Münze zu Calcutta auf dem Programm, die uns ob ihrer Leistungsfähigkeit und Großartigkeit der maschinellen Ausstattung gerühmt worden war. Die Calcuttaer Münze ist in der Tat bewundernswert eingerichtet. Ein geradezu kolossales Etablissement, liefert sie täglich 300.000 bis 400.000 Rupien, ohne an der Grenze der Leistungsfähigkeit angelangt zu sein. Die Silber- und die Kupfermünze bilden getrennte Gebäude; erstere ist im dorischen Stil erbaut, letztere stellt sich als ein umfangreicher Block von Gebäuden dar. Der Direktor machte den Führer durch alle Räume und Werkstätten, den Prozess der Fabrikation in allen Stadien, ja auch die Zählung und Verpackung erklärend und demonstrierend. Wo nur möglich, stehen Maschinen der praktischesten und sinnreichsten Art in Verwendung und beinahe an ein denkendes Wesen gemahnt jene Maschine, welche die Sortierung der im Gewicht richtig ausgeprägten Münzen von den zu leicht oder zu schwer ausgefallenen Stücken besorgt. Die Umwandlung der Silberbarren in blank und schön geprägte Rupien geht dank den Maschinen mit erstaunlicher Schnelligkeit vor sich. Man denkt dabei unwillkürlich an die Funktion der berühmten Vorrichtung, auf deren einer Seite Hasen gejagt und in die Maschine geworfen werden, während auf der anderen Seite fertige Hüte herausfliegen! Wie bedauerlich, dass auch die großartigste Münzstätte, die genialste Maschine der Welt dem Preisfall des Silbers keinen Einhalt zu thun vermochte; eine Erscheinung, welche der indischen Regierung noch schwere Sorgen bereiten wird. Außer dem couranten Geld für Ceylon und Indien werden in der Calcuttaer Münze auch für Afrika bestimmte Münzen und die so zahlreichen englischen Kriegsmedaillen geprägt.

Nachmittags fuhr ich mit dem vizeköniglichen Paare auf einer hohen Coach zu den Schlussnummern der drei Stunden dauernden Militärsports, die auf dem Rennplatz vor einer hohen Tribüne stattfanden und eine dichtgedrängte Menge von Zuschauern, darunter viele hübsche Damen, angelockt hatten.

Bei dem Preisfahren mehrerer Geschütze mit ihren Bespannungen mussten in ziemlich scharfen Wendungen mitten zwischen nahe aneinander gestellten Pflöcken hindurch Achterfiguren gefahren werden: ein einziges Geschütz von vieren löste diese Aufgabe fehlerlos.
Eine Quadrille der Calcuttaer Berittenen Freiwilligen war gut gemeint, fiel aber nicht sonderlich gelungen aus. Dieses Corps setzt sich aus Vertretern des Kaufmannsstandes und ähnlicher friedlicher Berufsklassen, zumeist aus älteren Leuten zusammen, die sich zweimal wöchentlich zu ihren sogenannten Übungen einfinden und lebhaft an vaterländische Bürgergarden erinnern. Ihre Reitkunst, sowie der Zustand der Pferde gestatten den Schluss, dass dieses Korps dem Feinde kaum sehr gefährlich sein dürfte.

Recht gut producierten sich englische Unteroffiziere und Soldaten im Turnen und Bockspringen. Teilnahme und Interesse höchsten Grades zeigte sich im Publikum für das Tauziehen, wobei zehn Mann eines Infanterieregimentes gegen zehn Artilleristen konkurrierten. Ausgesucht starke Leute standen einander gegenüber und lange schwankte der Kampf hin und her. Allgemeine Aufregung herrschte bei den Mannschaften der beiden Regimenter, die vollzählig im Zuschauerraum erschienen waren. Wetten wurden eingegangen und von allen Seiten den Kämpfern anfeuernde Worte zugerufen. Einmal hatten die Infanteristen schon acht Mann der Gegner auf ihre Seite gezogen; doch plötzlich wandte sich das Glück, und nach viertelstündigem Kampf siegten die Artilleristen. In diesem Augenblicke stürzten vier Mann vor Anstrengung bewusstlos zusammen, erholten sich aber nach einiger Zeit.

Sehr erheiternd war das folgende Tauziehen zu Pferd, das zum ersten Mal von je sechs Eingeborenen auf ungesattelten Pferden versucht wurde. Die Reiter beider Parteien boten die äußerste Anstrengung und Geschicklichkeit auf, um sich nicht nur auf den Pferden zu erhalten, sondern auch die Gegner herab- und herüberzuziehen; doch waren die Kräfte so gleich verteilt, dass zum Schluss, da keine der beiden Parteien sich vom Fleck rührte, der Kampf als unentschieden erklärt werden musste.

Lady Landsdowne verteilte die Preise an die glücklichen Gewinner; dann kehrten wir, von dichtem Nebel umhüllt, nach dem Government House zurück, wo unser ein Gala-Diner und nach Beschluss desselben eine Soiree warteten. Dieser Nebel ist charakteristisch für Calcutta; jeden Abend senkt er sich, mit Rauch gemischt, in unglaublicher Dichte über die Stadt und teilt sich erst des Morgens. Die äußerst feuchte Atmosphäre und der beständige Nebel sollen die hauptsächliche Ursache dessen sein, dass das Klima Calcuttas ungesund und fiebererzeugend ist.

Dem Diner, welchem abermals bei 80 Personen anwohnten, folgte eine Soiree, zu der über 2000 Einladungen ergangen waren. Ich gestehe, — sonst kein Freund derartiger Massengeselligkeit — dass ich auch diesen Abend zu den interessanten Erinnerungen zähle; denn die bunt durcheinander gewürfelte Menge von Herren und Damen aus allen Gesellschaftsklassen bot ein ungewohnt fesselndes Bild. Neben Europäern sah man Parsis, Tibetaner und indische Kaufleute, ja selbst die Gattin eines Radschas war erschienen.
Den Glanzpunkt des Festes bildeten wieder die zahlreichen von Diamanten strotzenden Radschas in ihren Nationalkostümen. Aber nicht bloß ihre äußere Erscheinung ist es, wodurch die Radschas die Aufmerksamkeit auf sich lenken. In früheren Zeiten ein wichtiger Faktor der indischen Geschichte, sind sie heute dank der Suprematie Englands, selbst in den einer relativen Unabhängigkeit sich erfreuenden Territorien, zur politischen Bedeutungslosigkeit verurteilt, soferne es nicht einzelnen gelingt, durch ihre Individualität und ihren Reichtum eine Rolle zu spielen. Den angestammten Adel darstellend, dessen Tradition in den Glanzepochen Indiens wurzelt, und zumeist mit Glücksgütern reich gesegnet, genießen die Radschas hohes Ansehen bei den Eingeborenen. Gleichzeitig stehen sie den englischen Machthabern näher als die große Masse des Volkes. Sie ragen als die Vertreter einer alten, ererbten Kultur in die Gegenwart herein und sind die nächsten Objecte der Beeinflussung durch europäische Civilisation. Beide Elemente — die alte Cultur und die europäische Civilisation — wirken, da sie noch zu keiner wechselseitigen innigen Durchdringung und Verschmelzung gelangt sind und sich gegenseitig beengen, ziemlich unvermittelt nebeneinander.

Die Engländer fördern die Ausbildung der zu Herrschern — Maharädschas oder Radschas — berufenen Fürstensöhne in besonderen Rädschkumar Colleges, Akademien, in welchen auch englisch gelehrt, ja Geschichte und selbst, nach J. S. Mills Werken, Nationalökonomie betrieben wird. Mitunter ist jedoch die Erziehung der Söhne einzelner, namentlich mächtigerer Fürsten englischen Erziehern überlassen. In der Regel treten mit Vollendung des 20. Lebensjahres Volljährigkeit und Throneinsetzung des Herrschers ein; doch wurde die Regierung dem Nisam von Haidarabad bereits nach Vollendung seines 18. Lebensjahres übertragen, während bei anderen Herrschern die Minderjährigkeit sich noch über das 20. Lebensjahr hinaus erstreckt. Der Herrscher überlässt die Landesverwaltung zumeist dem Darbar (Staatsrat), welcher dieselbe fast immer nur nominell führt, tatsächlich aber dem Einfluss des englischen Residenten unterliegt. Dies erklärt auch, dass die Administration meist gut ist; dort aber, wo englische Einwirkung in den Hintergrund tritt, erinnern die Zustände in den Radscha-Staaten bei der Willkür der Behörden nicht selten an unsere Redensart von orientalischer Despotie. Unter den Fürsten findet man alle Spielarten vertreten — nicht zum wenigsten Londoner Stutzer und genussüchtige Lebemänner, den Sportsman und Jäger, ja selbst orientalische Barbaren.

Aus dem Nebeneinander der alten indischen und der neuen europäischen Kultur erklärt sich auch die Erscheinung, dass die Radschas in ihrem Gehaben und Gebaren den Eindruck einer Art Doppelkultur, oder — wenn von unserem Standpunkt aus dieses „Zu viel“ weit eher als ein „Zu wenig“ erscheint — der Halbkultur machen. Stagnation auf der gegenwärtigen Stufe dürfte ebenso ausgeschlossen sein, wie ein völliger Rückschritt zur alten indischen Kultur oder ein gänzliches Aufgehen in europäischer Zivilisation. Im Lauf der Zeit werden diese Entwicklungsmotive wohl zu harmonischerer Verbindung und Ausbildung gelangen. Auf die künftige Gestaltung der Dinge in Indien mag es nicht ohne Einfluss sein, ob hiebei das eine oder das andere der Motive die Oberhand gewinnt. Der sozialen Politik Englands ist hier auf einem bestimmten Gebiet eine schwierige, aber gewiss auch dankbare Aufgabe gestellt.

Einige der zum Fest erschienenen eingeborenen fürstlichen und sonst hervorragendsten Persönlichkeiten seien hier genannt: Maharadscha von Rewah, Mahärädscha von Pattiala, Mahärädscha von Darbhanga, Maharädscha von Bettiah, Rädscha Sir Surindro Mohun Tagore, Radscha Sir Norendro Krischna, Radscha Durga Tscharn Lal, Prinz Mirza Katnar Kadr — ein Sprosse der königlichen Familie von Audh. Prinz Mirza Dschehan Kadr, Nawäb Abdul Latif Khan Bahädur. Nawäb Seid Amir Hossein.

Unter den mir Vorgestellten befanden sich auch Offiziere der indischen Regimenter in Calcutta, welche — einem eigentümlichen, an ritterliche Sitten gemahnenden Brauch huldigend — bei der Vorstellung die Schwerter zogen und mir zur Berührung mit der Hand darboten. Eine Symbolik, die offenbar den höchsten Grad der Ergebenheit ausdrücken soll.

Links

  • Ort: Calcutta, Indien
  • ANNO – am 04.02.1893 in Österreichs Presse. Die USA haben wegen der Cholerafälle ein Importverbot für Altkleidung aus Europa erlassen. Nur mit einer amtlichen Bestätigung, dass das Herkunftsgebiet cholerafrei ist, wird eine Ausnahme erteilt. In Russland ist der berühmte Clown Durow, den Wiener durch seine Auftritte wohl bekannt, wegen Einfuhr nihilistischer Schriften verhaftet und in den Kerker der Peter und Paul–Festung in Sankt Petersburg geworfen worden.

The Wiener Salonblatt No. 6 of 5 February 1893, p. 3, reports about Franz Ferdinand's arrival in Calcutta an his reception by the vice-king and his wife.

Das Wiener Salonblatt No. 6 vom 5. Februar 1893,S. 3, berichtet über Franz Ferdinands Ankunft in Calcutta und seinen Empfang durch den Vizekönig und dessen Gattin.

  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater führt das Lustspiel “Gönnerschaften” auf, während das k.u.k. Hof-Opermtheater Verdi’s “Hernani” spielt.

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