Niagara Falls, 4. Oktober 1893

Die Nachtruhe wurde abermals durch die mit dem Verschieben verbundenen, heftigen Stöße empfindlich gestört; auch konnten wir am Morgen wieder den Verlust mehrerer Weinflaschen sowie die Verletzung eines der uns bedienenden Neger, welcher durch die Wucht eines Anpralles gegen die Waggonwand geschleudert ward, konstatieren.

Wir hatten Chicago kaum mit dem Michigan Central Railroad verlassen, um dem nächsten Reiseziele, den Niagarafällen, zuzufahren, als wir in das Gebiet des Staates Indiana und dann in jenes von Michigan eintraten; bei Detroit übersetzten wir mit dem Eisenbahnzug auf einem großen Trajectschiffe den Detroit River, der den Huron- und den kleinen St. Clair-See mit dem Erie-See verbindet, und erreichten endlich bei Windsor das Gebiet der kanadischen Provinz Ontario.

Der Tag war schön und die Gegend sehr anmutig, da Waldungen und Waldparzellen mit Farmen, Obstgärten und Feldern abwechselten; die Bäume trugen allenthalben bereits das herbstliche Kleid, das viel intensiver als unter unserem Himmelsstrich gefärbt war und sich an den zahlreichen Eichen und Ahornen in auffallend schönem, vom hellen Zinnober bis zum dunklen Purpur variierendem Rot zeigte, wirksam gehoben durch das Gelb und Braun der Pappeln und Kastanien. Die Obstbäume, unter welchen ein scharlachroter Ailanthus wucherte, waren mit Früchten behangen.

Trotz dieser hübschen Bilder, an denen wir uns nicht satt sehen konnten, bedauerte ich, nicht wie sonst am 4. Oktober hoch oben in den Kärntner Bergen weilen zu können, um hier in meiner kleinen Jagdhütte reine Luft zu schöpfen und mich, von meldenden Hirschen umgeben und vom Jägerjungen sowie vom Schweißhunde begleitet, ungetrübten Naturgenusses zu erfreuen, das Auge an der unvergleichlichen Landschaft unserer Alpen weidend. Der Mensch hängt eben an seinen Gewohnheiten und vermisst schwer, was er liebgewonnen.

Das plötzliche Anhalten des Zuges riss mich aus meinen Betrachtungen, alles rief: „Der Niagara, der Niagara“. Die Bahnverwaltung hat einen Aufenthalt von wenigen Minuten eingeschaltet, um den Reisenden einen Blick auf den Fall zu ermöglichen, der mich im ersten Moment enttäuschte, ernüchterte; denn schon seit meiner frühesten Jugend hatte sich in mir eine Vorstellung dieses Naturwunders ausgestaltet, die in grellem Widerspruch mit der Wirklichkeit stand. Der Fluss stürzt in einer ganz flachen Gegend, aus welcher Städte, Hotels und rauchende Fabriksschlote aufragen, über einen Felsabsatz, der einem ungeheueren Wehr nicht unähnlich ist, hinab. Trotzdem leugne ich nicht, dass dieser mächtigste Wasserfall der Erde einen durchaus großartigen Charakter an sich trägt, der aber allerdings in meinen Augen durch den Mangel der landschaftlichen Szenerie stark verliert; es fehlt eben der dieses Bildes würdige Rahmen.

Der Niagara River ist der Abfluss des Superior-, Michigan-, Huron- und Erie-Sees und besitzt, auf seinem 58 km langen Lauf um 100 m abfallend, eine reißende Geschwindigkeit; am Rand des Falles wird das Flussbett durch Goat Island geteilt und bilden sich daher zwei Fälle, nämlich der 322 m breite, amerikanische und der 915 m breite, gekrümmte Horse Shoe oder kanadische Fall. Die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada geht mitten durch den Horse Shoe-Fall; beide Fälle ergießen in einer Minute 425.000 m³ Wasser zutal. Unterhalb der Fälle verengt sich der Fluss und bildet tosende Stromschnellen, die man von der hohen Cantilever Bridge der Michigan Central Railroad übersieht, einer freischwebenden Brücke, welche den Niagara übersetzt, ohne auf Pfeilern zu ruhen. Etwa 90 m weiter flussabwärts ist die Railway Suspension Bridge gespannt, eine Kettenbrücke, die unterhalb des Bahngeleises noch eine Brücke für den Straßenverkehr trägt.

Der Zug macht, nachdem er über die Cantilever Brücke auf amerikanisches Gebiet gelangt ist, außerhalb der Stadt Niagara Falls halt, welche ihr Entstehen und ihren Bestand weniger den industriellen Etablissements, als dem Fremdenzufluss verdankt; kommen doch jährlich über 400.000 Besucher hieher.

Alsbald verfügten wir uns nach dem auf kanadischem Ufer gelegenen Queen Victoria Niagara Falls Park, der sich 4 km weit den Fluss entlang zieht, und, wohlgepflegt sowie mit saftig grünem Rasen und mächtigen Bäumen geschmückt, allenthalben prachtvolle Ausblicke auf die Fälle bietet. Table Rock ist der Punkt, von dem aus gesehen der Hufeisenfall die bedeutendste Wirkung hervorbringt; mit betäubendem Getöse stürzt die Wassermasse ab, während der feine Wasserstaub, in welchen die Sonne prächtige Regenbogen webt, hoch aufgewirbelt wird.

In einem naheliegenden Haus erhält man Kautschukanzüge, die nur das Gesicht freilassen, fährt dann mit einem Elevator zum Fuß des Falles, passiert hier zuerst eine Höhle und schreitet dann auf einem schmalen Steg zwischen den Felsen und den donnernden Wassermassen weiter. Es war ein eigentümliches, fast möchte ich sagen beengendes Gefühl, das wir, inmitten der tosenden Gewässer an eine Felswand gelehnt, empfanden; unsere Stimmen vermochten den gewaltigen Lärm nicht zu übertönen, und von Zeit zu Zeit erhielten wir aus bedeutender Höhe eine Dusche nach der anderen. Die Felsen bestehen hier aus Sandstein und sehr brüchigem Schiefer, von dem sich unausgesetzt größere Stücke ablösen, so dass das Gefühl der Sicherheit beim Vorwärtsschreiten stark beeinträchtigt wird. Auf Stufen und Leitern und unter häufigem Ausgleiten auf den schlüpfrigen Steinen klommen wir noch ungefähr 30 m tiefer, kamen wieder vor den Fall und konnten uns hier, durch ein ausgiebiges Sturzbad begrüßt, neuerdings an der Großartigkeit des Schauspieles erfreuen. Äußerst effektvoll war die von den Strahlen der untergehenden Sonne hervorgezauberte rötliche Beleuchtung des Falles.

Mein Namenstag wurde beim Diner im Waggon gefeiert, worauf wir uns einen vergnüglichen Abend in der vielgepriesenen Music Hall von Niagara Falls machen wollten; doch war der hier gebotene Kunstgenuss höchst mäßig und auch das Publikum von der geringsten Sorte.

Links

  • Ort: Niagara Falls, Ontario, Kanada
  • ANNO – am 04.10.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater spielt das Stück „Landfrieden“, während das k.u.k. Hof-Operntheater „A Santa Lucia“ und anderes aufführt.

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