Kanton, 24. Juli 1893

Ein Deutscher, Herr Lange, welcher schon viele Jahre in China weilt und auch Kanton genau kennt, hatte sich als Führer durch diese Stadt angeboten, was ich dankend annahm, da ein ortskundiger Cicerone gar nicht zu entbehren ist, wenn während eines kurzen Zeitraumes all das Interessante, woran Kanton so reich ist, besehen werden soll. Der Generalkonsul Haas aus Schanghai, dessen rechtzeitiges Eintreffen durch einen Taifun verhindert worden, schloss sich, heute morgens in Kanton eingelangt, uns ebenso an, wie Herr Goetz. Früh am Morgen brach die Karawane in Palankinen nach der Stadt auf.

Kaum haben wir die Brücke, welche Scha-mien mit dem Festland verbindet, überschritten, so entrollt sich vor unserem erstaunten Auge ein Bild, womit die Straßenbilder von Singapur und Hongkong nicht zu vergleichen sind. Mit einem Schlag fühlen wir uns in eine uns völlig fremde, neue Welt, in eine echte, unverfälschte, von europäischer Kultur nicht berührte chinesische Stadt versetzt, die heute wohl noch genau so aussieht, wie in altersgrauen Zeiten. Die Treue,
mit welcher die Chinesen sich in den von den Altvordern beschrittenen Bahnen weiter bewegen, mit der sie das Bestehende erhalten und auf die kommenden Generationen vererben, erstreckt sich auf alle Gebiete des Lebens, auch auf die Wohnungsverhältnisse, auf die Städte; Erweiterung, Regulierung, Assanierung eines Gemeinwesens scheinen hier völlig unbekannte Dinge zu sein — Dinge, die für uns Barbaren gut sein mögen. In den Söhnen des Tschung-kuock (Dschong-koe), des „Reiches der Mitte“, ist, wenngleich sie, durch die eiserne Faust europäischer Staaten wiederholt gebeugt und in vielfachen Handelsbeziehungen mit der alten Welt stehend, die Überlegenheit abendländischer Kultur sehr genau kennen, die Abschließung gegen alle fremden Elemente und deren Einfluss so tief gewurzelt, dass von einer irgendwie nachhaltigen europäischen Einwirkung noch nichts zu verspüren ist und wohl auch noch lange nicht wird die Rede sein können. Die mir recht unsympathischen Chinesen blicken in dünkelhafter Verblendung auf eine uralte, verhältnismäßig hohe, jedenfalls aber eigenartige, nicht einem anderen Volk abgelauschte Kultur zurück, in deren Entwicklungsprozesse jedoch ein vollkommener Stillstand eingetreten ist; an den vor Jahrhunderten, ja, vor Jahrtausenden bereits gemachten Errungenschaften halten die Chinesen mit zäher Beharrlichkeit fest, und ihr an sich achtungswerter Konservativismus ist in dieser Richtung zur Verknöcherung geworden. Wohl nur ein Ereignis von elementarer Wirkung wird hier im Stande sein, Bresche zu legen und so europäischer Kultur Bahn zu brechen — ob zum Wohl Europas, bleibe dahingestellt.

Die Straßen der Stadt haben eine so geringe Breite, dass sie uns kaum möglich dünkt; in vielen Verkehrsadern können sich zwei Menschen nur mühsam aneinander vorbeidrücken, keines der Durchhäuser in unseren Städten ist so schmal wie diese Gassen. Der praktische und der Dichtigkeit der Bevölkerung Rechnung tragende Chinese ist eben ein Feind von Raumverschwendung; er zieht vor, sich durch enge Straßen hindurchzuzwängen und zu schieben, als sich zu einer breiteren Anlage derselben zu entschließen. Dennoch sind die Straßen Kantons hinlänglich geräumig, um eine solche Fülle von Erscheinungen zu bergen, dass es der Augen des Argus bedürfte, um alles zu sehen, zu beobachten, um alle die Eindrücke aufzunehmen, welche auf den Fremdling eindringen. Während der langen Dauer der Reise habe ich mich geübt und gewöhnt, Neues zu erfassen, hier aber wollte die Fülle, die Mannigfaltigkeit, die Buntheit, die Lebendigkeit der Bilder, die allenthalben auftauchten, wechselten, verschwanden, wiederkehrten, sich gegenseitig behindernd und verdrängend, den Wanderer schier verwirren, betäuben, erdrücken.

Unter lautem Geschrei schaffen sich die Träger unserer Palankine Platz, mitten in der sich hin und her windenden Menge, worin alle Schichten der Bevölkerung vertreten sind, der Lasten schleppende Kuli sich vorwärts schiebt und der ekelhafte Bettler nach Raum ringt, um jammernd mit der Sammelbüchse an unsere Tragsessel zu gelangen. Andere Palankine, geschlossen und geschmückt, in welchen reiche Chinesen einherschwanken, kommen uns entgegen; das Ausweichen macht Schwierigkeiten, ein Zusammenstoß ist unvermeidlich und eine Flut gegenseitiger Beschimpfungen der Träger die Folge. Ein schwer beladener Kuli bricht sich Bahn, die Fußgänger können sich nicht rasch genug beiseite drücken, um einer Kollision mit einer Kiste, einem Ballen, einem Kübel, Wasser oder Schlimmeres enthaltend, vorzubeugen.

Hier naht ein Hochzeits-, dort ein Leichenzug; die vorangetragenen Schaustücke, die betäubende Musik erwecken allgemeine Aufmerksamkeit; die Menge drängt sich herbei und sperrt den Verkehr. so dass nur die Flucht in einen Laden und das Verweilen daselbst erübrigt, bis das Hindernis vorbei. Zu all dem sind auch hier wie in Hongkong längs der Häuser mobile Garküchen aufgeschlagen und Tische gestellt, auf welchen verschiedene Gegenstände des täglichen Gebrauches zum Verkauf ausgelegt sind. Dabei reiht sich Laden an Laden, in jedem herrscht lebhafte Bewegung, ein fortwährendes Ein und Aus und in keinem fehlt der Hausaltar. In den meisten Läden werden, wie in den indischen Bazars, die Vekaufsartikel auch erzeugt; Lärm aller Art dringt aus diesen Stätten emsigsten Betriebes auf die Straße; da ist des Klopfens, Hämmerns, Sägens, Hobelns u. s. w. kein Ende. Die Häuser sind bedeckt mit senkrecht herabhängenden Schildern von oft bedeutender Länge und nicht selten geradezu künstlerischer Ausschmückung. Wer etwa behauptet, dass ein Bazar allenfalls in Indien der Inbegriff bewegten Straßenlebens sei, der hat noch keine Straße in Kanton gesehen!

Wir lenkten unsere Schritte einer Anstalt zu, in der auf Kosten reicher Leute Kranke unentgeltlich in ambulatorische Behandlung genommen werden und Heilmittel erhalten; der Hof des Gebäudes und die Vorhalle waren mit Siechen gefüllt, während auf einer Estrade zwei chinesische Ärzte mit ungemein wichtiger Miene ordinierten. Die Kunst der einheimischen Heilkünstler soll sich noch auf einer sehr niedrigen Stute befinden und auf Pulsfühlen, Schröpfen u. dgl. m. sowie auf die Verschreibung und Verabfolgung von Quacksalbereien beschränkt sein. Wir sahen denn auch hier die Ordinationen sich sehr rasch abspielen; denn wie verschieden die einzelnen Krankheitsfälle gewiss auch waren, die Söhne Aesculaps griffen immer nur nach dem Puls der Patienten, pinselten irgend ein Remedium auf einen Zettel und entließen die Kranken mittels gütiger Handbewegung. Die Außenseite dieser chinesischen Polyklinik ist mit zahllosen, auf rotem Papier gepinselten Danksagungen beklebt, so dass sich auch hier jene Farbe vertreten findet, der man sowie der gelben überall wiederbegegnet.

Ein Maler hat neben dem Ambulatorium sein Atelier aufgeschlagen und bringt hier in einer sehr feinen, ansprechenden Manier auf einem aus Pflanzenfasern hergestellten Stoffe naturwahre und nett ausgeführte Szenen aus dem chinesischen Leben, aus der Göttersage sowie Schiffe, Pflanzen, Tiere u. dgl. m. zur Darstellung. Da der Musensohn in den Anforderungen sehr bescheiden war, plünderten wir die Stätte seines Schaffens und verließen dieselbe mit einer ganzen Ladung seiner Erzeugnisse beschwert.

Nun wandten wir uns dem chinesischen „Ruhmeshain“, dem Wa-lem-dsy (Hoa-lin-sy) zu; dieser Tempel, welcher in den westlichen Vorstädten, außerhalb der Ringmauer, liegt, gilt als einer der reichsten in Kanton, was unschwer zu erklären ist; denn er enthält in der Tat die Darstellung von nicht weniger als fünfhundert Gottheiten oder Schülern Buddhas, offenbar berühmter Chinesen, die dank ihren Verdiensten in der Anerkennung der Nachwelt eine übermenschliche Stufe erklommen haben. Hier ist daher den Gläubigen reiche Auswahl unter Himmlischen geboten, deren Wohlwollen erkauft werden muss, und mancher Krösus Kantons mag diese oder jene Veranlassung gehabt haben, sich mittels einer reichen Widmung an eine der Gottheiten zu wenden, so zum Reichtum des Tempels beitragend. Der Anblick der eigentlichen großen Tempelhalle wirkt im ersten Augenblick geradezu verblüffend, wegen der imponierenden Anzahl von fünfhundert Statuen, die, etwas unter Lebensgröße, aus Holz gebildet und vergoldet, von den Wänden und aus der Mitte des Raumes von ihren quadratisch angeordneten Sockeln auf den Eindringling herabstarren. Die Üppigkeit der Phantasie, welche es vermocht hat, die fünfhundert Gestalten mitunter in drastischer Weise zu individualisieren, ist erstaunlich, und man stößt, die Kunstwerke einzeln durchmusternd, auf die drolligsten Einfälle. Hier ist ein Gott offenbar besonders guter Stimmung und zeigt uns eine äußerst vergnügte Miene; dort droht ein anderer mit wütender Gebärde auf die Menschheit herab; jener, offenbar der Gott der Spassvögel, verkürzt sich die Zeit, indem er einen Hut auf der Nase balanciert; dieser wendet in auffallendster Weise seine Aufmerksamkeit der neben ihm postierten Göttin zu, die ihm, wie es scheint, nicht gleichgültig ist, — und so weiter in buntem Wechsel, innerhalb dessen selbst ein Gynäkologe an manchen Darstellungen seine Freude, weil Gelegenheit zur Lösung der schwierigsten Probleme, fände. Dem Europäer gewährt es wohl das größte Interesse, zu sehen, dass auch der berühmte Venezianer Marco Polo als Buddha-Schüler hier Aufnahme gefunden hat und mit dem Ausdruck stolzer Würde einen Eckplatz einnimmt. Jede Gottheit hat ihre Räucherkerzen vor sich stehen.

Bei dem Anblick so mancher der Statuen konnte ich mich des Lachens nicht erwehren; ich hatte anfänglich gefürchtet, dass meine Heiterkeit als Profanation übel gedeutet werden könnte und war daher nicht wenig erstaunt, zu sehen, dass die begleitenden Eingeborenen in mein Lachen herzlich einstimmten. Im allgemeinen scheint Religiosität in unserem Sinn bei den Chinesen nicht vorhanden zu sein und hauptsächlich durch Aberglauben aller Art sowie durch Furcht vor bösen Geistern ersetzt zu werden, während die guten Geister, von deren Seite nichts zu besorgen, leichter ignoriert werden können. Mit dieser Geringwertigkeit des religiösen Sinnes steht es offenbar in Zusammenhang, dass die Gotteshäuser der bei uns gewohnten Heilighaltung entbehren und Scharen lärmender, spielender Kinder sich in denselben umhertreiben, eilende Fußgänger die Tempel als dem öffentlichen Verkehre dienende Durchhäuser benützen. Gleichwohl sieht man ab und zu doch strenggläubige Chinesen, welche ihre Gebete in andächtigster Weise murmeln, sich hiebei wiederholt verneigen und den Boden mit der Stirne berühren, um endlich Räucherkerzen oder einen Papierstreifen als Rauchopfer zu entzünden oder vor dem Tempel irgend einen Feuerwerkskörper abzubrennen und so Dämonen zu verscheuchen. Diese Betätigung frommer Gesinnung „à la Stuwer“, welche für den ahnungslosen Wanderer, dem plötzlich Schwärmer zischend um die Beine schwirren, ebenso überraschend als unterhaltend ist, erfreut sich, nach der Häufigkeit zu urteilen, in der sie auftritt, offenbar großer Beliebtheit.

Vor drei großen Buddha-Figuren, welche auch den Wa-lem-dsy schmücken, liegt eine kleine Tafel mit dem inschriftlichen Wunsch für den jeweils regierenden Kaiser, dass er ungezählte Jahre leben und kommende Geschlechter beherrschen möge. Die Aufmerksamkeit wird hier durch zwei Pagoden erregt, deren eine aus Bronze, die andere aus Marmor; letztere wurde vom Kaiser Kien-lung gestiftet, welcher nicht als Ideal männlicher Schönheit betrachtet werden kann, wie das vor dem Buddha-Altar prangende Bild des hohen Spenders verrät.

Unsere. Wallfahrt fortsetzend, pilgerten wir durch das Gewirr der kleinen Gassen zu dem Tempel der Fünf Genien in der oberen Tartarenstadt. Beim Eingang hängt in einem Torbogen eine große Glocke, deren Gewicht 10.000 Pfund betragen und die durch ihr Erklingen Unheil künden soll; denn dieselbe ertönte in der ganzen Stadt vernehmlich während des Bombardements von Kanton durch die Engländer und die Franzosen im Jahre 1857, als eine der ersten feindlichen Kugeln in die Glocke eingeschlagen und ein großes Stück herausgebrochen hatte. Die Fünf Genien in der Tempelhalle sind figurale Darstellungen biederer, mit untergeschlagenen Beinen beschaulich dasitzender Chinesen, vor welchen fünf Steine liegen, die zweifelsohne Meteoriten sind. Es geht die Sage, dass die Fünf Genien auf Widdern durch die Luft geritten wären und fünf Körner als Symbol des Reichtums mit sich gebracht hätten, worauf die Widder in eben jene Steine verwandelt wurden, welche im Tempel aufbewahrt sind, weshalb denn Kanton auch die „Stadt der Widder“ genannt wird. Der Ritt durch die Luft scheint den Genien wohl bekommen zu haben; sie tragen ein blühendes und recht vergnügtes Aussehen zur Schau, während an den Wänden der Tempelhalle und namentlich im oberen Stockwerk wieder gar finstere Gesellen in Lebensgröße, offenbar fürchterliche Dämonen, dem Besucher entgegendräuen.

Wie in den anderen Tempern findet auch hier der Aberglaube die „höchste Fruktifizierung ohne Risiko“, da jedermann Gelegenheit geboten ist, einen Blick in die Zukunft zu tun; die Mittel hiezu sind höchst primitive, und der Versuch ist nicht so gefährlich wie jener, den Schleier des Bildes zu Sais zu lüften. Zwei der chinesischen Methoden, der Zukunft ihre Geheimnisse zu entreißen, sind Tsien und Kao-dsy benannt. Bei der ersteren wird dem Wissbegierigen ein mit Stäbchen, welche Zeichen tragen, gefüllter Becher gereicht, der so lange zu schütteln ist, bis ein Stäbchen aus dem Becher und zu Boden fällt. Ein Bonze folgt dann, natürlich gegen hohes Entgelt, den dem Zeichen auf dem Stäbchen entsprechenden Orakelspruch aus. Das Kao-dsy ist Damen vorbehalten, welche zu wissen wünschen, ob ihnen Kindersegen beschieden sein wird, was sie zuverlässig erfahren, wenn sie zwei Stäbchen auf einen Opfertisch weifen. Fallen die Stäbchen so, dass die Spitzen derselben einander zugekehrt sind, so gilt dies als sicheres Zeichen bevorstehenden Kindersegens, während die von einander abgekehrten Spitzen jede Hoffnung benehmen. Da es bekanntlich im Leben des Menschen Augenblicke gibt, „wo er dem Weltgeist näher ist als sonst — und eine Frage frei hat an das Schicksal“, fasste ich mir ein Herz und ergriff den Becher, mein Orakel herauszuschütteln. Ich erfuhr, dass mir — o Schreck — 83 Söhne beschert sein würden!

Bemerkenswert ist, dass bei den Fenstern des Tempels das Glas durch dünngeschliffene Muschelschalen vertreten wird, welche wie altgotische Butzenscheiben eingefügt sind und, ohne durchsichtig zu sein, doch einer genügenden Menge von Lichtstrahlen gestatten, in die heiligen Räume einzudringen. Von dem ersten Stockwerk des Tempels bietet sich eine hübsche Rundsicht auf die Tartarenstadt, aus deren Bewohnern sich der Kern der Garnison Kantons rekrutiert.

Hart neben dem Tempel der Genien steht ein kleinerer, ziemlich vernachlässigter Tempel, in dem, in einen Felsen eingedrückt, die Fußspur Buddhas gezeigt wird, der auf einem sehr großen Fuß gelebt haben muss, da die Spur zum mindesten einen Meter Länge hat. Aller erdenkliche Unrat wird auf diese „geheiligte“ Stätte, die sich offenbar keiner besonderen Achtung erfreut, abgelagert.

An einer Moschee ist zwar nicht der Baustil, wohl aber der Umstand von Interesse, dass sie, am Fuß eines durch eine Pagode geschmückten Hügels stehend, als das erste mohammedanische Gotteshaus in China bereits in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts erbaut worden ist. Seither ist der Islam, welcher seine Ausbreitung in China den zwischen dem Reiche der Mitte und Arabien aufrechterhaltenen Handelsbeziehungen dankt, die Religion eines nicht unbeträchtlichen Teiles der Bevölkerung Chinas geworden. Die Moschee weist im Innern die übliche Ausschmückung durch arabische, dem Koran entnommene Inschriften auf und ist mit einer Schule für Knaben verbunden, in welcher der Koran in arabischer Sprache gelesen wird. Meinen Beifall hat zumeist ein über 50 m hoher, schiefer Turm gefunden, der angeblich im Jahre 900 von arabischen Reisenden erbaut worden und nun — eine Augenweide in dem Häusermeer — bis zur Spitze empor von dem herrlichsten Efeu umrankt ist.

Dass wir an einem Konfuzius-Tempel nicht vorbeigingen, ohne ihn zu besichtigen, ist selbstverständlich. An der Stätte, welche der Erinnerung an den Weisen gewidmet ist, der, von niedrigen Anfängen ausgehend, sich in den Augen jedes gebildeten Chinesen zu dem Urbild menschlicher Vollkommenheit erhoben hat, so dass dessen Philosophie zur Staatslehre geworden ist, fehlen die in den bisher besuchten Tempeln zum Teil im Übermaß vorhandenen Darstellungen von Götzen vollständig. Hier finden sich nur Tafeln, die an Kong-fu-dsy und seine Schüler gemahnen; diesen muss wenigstens zweimal im Jahr auf Staatskosten Verehrung bezeigt werden. Innerhalb gewisser Gebiete und größerer Städte muss ein Tempel des Konfuzius und zwar nach den für die Bauart erlassenen Vorschriften errichtet sein. An diesen Tempeln sind im Gegensatz zu der großen Zahl von Priestern an den Kultusstätten anderer Bekenntnisse keine Gottesdiener bestellt; es ist vielmehr Sache des höchsten Beamten, bei gewissen feierlichen Gelegenheiten den Ehrendienst zur Erinnerung an Kong-fu-dsy und seine Schüler abzuhalten. Der von uns besuchte Tempel dient übrigens noch einem sehr praktischen Zweck, da in den Säulenhallen und Nebengebäuden arme Studenten unentgeltliche Wohnung finden können, um sich für die Prüfungen vorzubereiten. Wie anderwärts, so drängen sich auch hier Bettler aller Art in der lästigsten Weise an den Besucher heran, und nur durch reichliches Almosen vermag man sich ihrer zu entledigen.

Um allen exotischen Bekenntnissen gerecht zu werden, ließen wir uns in unseren Palankinen auch nach einem Tempel der Daoisten tragen; dieser besteht aus einer Reihe von Baulichkeiten und macht den Eindruck sorgfältiger Instandhaltung, da die zahlreichen Götzenbilder in tadelloser Sauberkeit und schöner Vergoldung prangen. In den erstaunlichsten Varianten treten uns hier die nie fehlenden Dämonen entgegen, deren einer einen Hund zermalmt, während andere die Menschheit mit den abenteuerlichst geformten Waffen bedrohen. Wahrhaft künstlerisch ausgeführt und einen hohen Wert repräsentierend sind die herrlichen Bronzevasen und Urnen, welche, auf Sockeln stehend, die Bestimmung haben, die brennenden Opferpapiere aufzunehmen. Wie man mir sagte, werden derartige Bronzen in einer Stadt nördlich von Kanton erzeugt, die ganz China mit diesen Meisterwerken versieht. Vor dem Tempel erstreckt sich eine Terrasse, mit blühenden Topfpflanzen geschmückt, worunter die rosenrote Lotosblume hervorragt. Hier wandelnd, geriet ich in eine Reihe kleiner Gelasse, worin zahlreiche Götzen, offenbar solche zweiter Kategorie, umduftet von dem brenzlichen Geruch der Räucherkerzen, mit ihren Altären untergebracht sind, und bereicherte daselbst meine Sammlung, indem ich kurzerhand einem Bonzen Räucherkerzen, Wahrsagestäbchen und Opferpapier abnahm; der Priester war ob des summarischen Vorganges anfänglich nicht wenig erstaunt, bald aber infolge einer entsprechenden Opfergabe mit demselben völlig ausgesöhnt.

Im Reich der Mitte scheint die Klausur für Nonnenklöster nicht eingeführt zu sein, wie ich daraus schloss, dass unser Führer den gern angenommenen Vorschlag machen konnte, einem solchen Konvent unseren Besuch abzustatten, und dass dieses Projekt in seiner Ausführung auf keinerlei Hindernisse stieß. An der Pforte des Klosters wurden wir durch die Oberin begrüßt und sodann in den Tempel geleitet, wo sie uns greulichen Tee vorsetzte, der lebhaft an einen Absud von Kamillen erinnerte. Rings um den Tempel steht ein Konglomerat winziger, halb zerfallener und äußerst schmutziger Häuschen, in denen die Nonnen wohnen; die Neugierde hatte einige der in blaue Gewänder gehüllten Frauen, deren Häupter kahl geschoren sind, vor ihre Behausungen getrieben, die mir ob des darin herrschenden Mangels an Ordnung einen recht üblen Eindruck hinterließen. Die Nonnen erfreuen sich keiner besonderen Achtung, nehmen überhaupt eine recht untergeordnete Stellung ein und kaufen armer Leute Kinder, denen sie dann eine fragwürdige Erziehung angedeihen lassen. Auch mir muteten die frommen Frauen zu, einige dieser Kinder käuflich zu erwerben, wobei mir versichert wurde, dass ich deren 25 bis 30, das „Stück“ zu 3 bis 4 Dollars, erhalten könne; doch lehnte ich diese Bereicherung meiner ethnographischen Sammlung dankend ab und verließ, nachdem die Oberin mich um eine milde Gabe für das Kloster ersucht, nicht nur nicht erbaut, sondern vielmehr angewidert diesen Ort. um die Totenstadt zu besehen.

Die Fürsorge für einen günstigen, das ist für einen glückverheißenden Begräbnisort ist eine nach chinesischer Auffassung höchst wichtige Angelegenheit, bei deren Entscheidung dem Wahrsager, der über die Eignung einer dem Frieden der Abgeschiedenen günstigen Stelle zu entscheiden hat, eine wichtige Rolle zufällt. Tritt ein Todesfall ein und ist die Wahl der Ruhestätte noch nicht getroffen, so ergibt sich die Notwendigkeit der einstweiligen Beisetzung; das gleiche Bedürfnis liegt vor, wenn ein Chinese außerhalb seiner Heimat das Zeitliche segnet; denn ihn ohne weiters an dem Ort, wo er gestorben, bestatten, hieße ihn der bei der Trauer- und Leichenfeier erforderlichen Teilnahme und Ehrenbezeigung der Familienglieder berauben.

Welche Wichtigkeit der Beisetzung in heimatlicher Erde zugeschrieben wird, beweist der Umstand, dass Chinesen sehr häufig nur dann bereit waren, sich zur Arbeit im Ausland zu verdingen, wenn ihnen vertragsmäßig zugesichert wurde, dass ihre Leichname, im Falle des Ablebens in der Fremde, zur Beisetzung in die Heimat zurückgesendet werden würden.

Übrigens greift man häufig auch zu dem Auskunftsmittel, die im Ausland Verstorbenen in Erde beizusetzen, welche aus der Heimat gebracht wurde; hiedurch wird für den Toten das traurige Schicksal, in der Fremde ruhen zu müssen, gemildert. Für die einstweilige Aufbewahrung der Toten sind eigene Gebäude, die Kun-tsoi-tschöngs (Goantsaitschang), das heißt „Sarghallen“, bestimmt, deren Anzahl und Anlage sich in Kanton zu dem Umfang einer Ortschaft, der in der Nähe des Osttores der Tartarenstadt gelegenen Totenstadt, Wing-sching-dsy (Jöng-tscheng), ausgedehnt hat. Diese ist von einer Mauer umgeben, von reinlich gehaltenen, gepflasterten Gassen durchzogen und mit Anpflanzungen geschmückt; die aus Stein erbauten, kleinen, niedrigen Häuser dieser Stadt enthalten ein Gelass oder deren mehrere, in welchen die Leichname mit den bei Bestattungen üblichen Zeremonien einstweilen beigesetzt werden. In jedem dieser Räume, welche an Badekabinen gemahnen, ist im Hintergrund ein niederes Gestelle für den Sarg und davor ein Altar errichtet, auf den eine Tafel mit dem Namen des Toten gelegt wird; Tische, Stühle und Leuchter vervollständigen die Ausstattung der Gelasse, deren Wände mit weißem und blauem Stoffe drapiert sind. Je nach den Vermögensverhältnissen der Familien, deren Tote hier ihres Grabes harren, ist die Ausstattung und der Schmuck der Leichenkammern mehr oder weniger reich. Die Särge sind durchwegs schwarz lackiert und an den Ecken mit ähnlichen Schweifungen verziert, wie wir sie an den Pagoden zu sehen gewohnt sind. Den sanitären Anforderungen soll dadurch Rechnung getragen sein, dass die Särge aus starkem Holz angefertigt, mit ungelöschtem Kalk gefüllt und gut verpecht werden.

Das Provisorium der Beisetzung in der Totenstadt erstreckt sich oft auf geraume Zeit, ja mitunter auf viele Jahre, ist aber an die Bedingung geknüpft, dass eine Gebühr für Einschreibung und ein Mietzins entrichtet werde; für die Höhe dieser Leistungen sollen das Vermögen und die Rangstellung der Familie des Verstorbenen maßgebend sein. Häufig werden jedoch die Toten nicht der Leichenbewahranstalt übergeben, sondern eingesargt im Sterbehaus selbst lange Zeit hindurch aufbehalten, namentlich dann, wenn die Hinterbliebenen sich von der Hülle des teueren Abgeschiedenen nicht trennen können. Die im Totenkultus sich ausprägende hohe Pietät für das Andenken an die verstorbenen Glieder der Familie ist der über das Grab hinaus wirkende Familiensinn der Chinesen und der mich im Charakterbild der gelben Menschen am meisten ansprechende Zug.

Von der Totenstadt aus werfen wir einen Blick auf den „Friedhof“ von Kanton, wie ich die im Norden der Stadt ansteigenden Hügel nennen möchte. Die chinesischen Wahrsager bezeichnen Anhöhen, insbesondere wenn diese Ausblick auf fließende oder stehende Gewässer bieten, als glückverheißende Grabstätten; daher sind denn jene nordwärts von Kanton aufragenden Hügel weithin, bis gegen die Weißen Wolkenberge mit Gräbern besäet — in der Tat ein Leichenfeld von ungeheuerer Ausdehnung. Tausende und Tausende von Grabsteinen schimmern herüber zu uns, spärliches Grün sprießt hervor aus dem Staube von Generationen und unendliche Melancholie weht von jenen Hügeln herab den Lebenden zu, diese daran gemahnend, dass sie mit dem Tod büßen müssen, gelebt zu haben.

Der Krone der Stadtmauer entlang traten wir eine kleine Bergpartie nach der im nördlichen Teile der Stadt gelegenen Fünfstöckigen Pagode der Mauer an. Der fortifikatorische Wert der Stadtmauer ist, wie schon erwähnt, ein sehr geringer, die Bastionen sowie die Türme machen einen recht wackeligen Eindruck, und die auf den Wällen postierten Geschütze gehören den verschiedensten Systemen an; der Tummelplatz kunstvoll webender Spinnen und mit fingerdickem Roste bedeckt, werden diese Kanonen grundsätzlich nie gereinigt und dürften ihrer Bestimmung wohl kaum mehr zuzuführen sein.

An dem Tor, durch welches der Weg auf die Stadtmauer führt, stand chinesisches Militär. Die Mannschaft trug auf den schmutzigen Uniformen vorne die Bezeichnung des Truppenkörpers, rückwärts jedoch über die Größe der Tapferkeit des Soldaten Versicherungen, die wahrscheinlicherweise den Feind in Schrecken zu setzen bestimmt sind. Hiebei ist mir allerdings nicht ganz klar, in welcher Weise die biederen Chinesen sich eine Wirkung von jenem Zeugnis der Tapferkeit erwarten, da ja dieses doch auf der Kehrseite des Kriegers angebracht ist, welche der Feind auch in China regelmäßig erst dann erblicken dürfte, wenn die Tapferkeit ihr Ende erreicht hat. Übrigens sollen ähnliche, den persönlichen Mut anpreisende Aufschriften auf Fahnen, Waffen u. dgl. m. eine stehende Einrichtung in der chinesischen Armee sein. Auf halbem Weg kamen wir zu einer an die Stadtmauer gelehnten, kleinen Mandschuren-Kaserne, in die ich natürlich sofort eindrang. In einem Raume dieses militärischen Gebäudes überraschte ich die Mannschaft bei dem Exercitium des Zimmerschießens „mit dem Pfeil, dem Bogen“. Ein Unteroffizier war eben beschäftigt, Rekruten in den höchst drolligen Stellungen zu unterweisen, die sie für jenes „Feuergefecht“ einzunehmen hatten; denn ein Teil der chinesischen Armee erscheint noch mit dem altväterlichen Pfeil und Bogen bewaffnet. Ob und inwieweit das angeblich im früheren chinesischen Reglement enthaltene Kommando, wonach die Mannschaft zur Unterstützung der Wirkung ihrer Waffen dem Feind ein grimmiges Gesicht zu zeigen hat, auch jetzt noch in Anwendung steht, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Eine Übung, welche wir hier beobachteten, setzte mich in gerechtes Erstaunen; es war dies zimmergymnastisches Turnen mit „Hanteln“, aber nicht etwa mit so benannten Vorrichtungen nach unseren Begriffen, sondern mit Instrumenten, die aus einem starken Pflock bestanden, an dessen Enden je ein Stein, etwa von der Form und Dimension eines kleinen Mühlsteines, stak. Dieses bedeutende Gewicht musste gestemmt, geschwungen und schließlich auf dem entblößten Nacken ohne Zuhilfenahme der Hände in kreisrunde Bewegungen versetzt werden — Kraftstücke, eines Athleten würdig.

Endlich auf der Höhe angelangt, hatten wir nur noch über eine steile Holztreppe die fünf Stockwerke der Pagode zu erklimmen, welche nicht so sehr religiösen als militärischen Rücksichten ihre Entstehung im 14. Jahrhunderte verdanken und jetzt als Beobachtungsposten dienen soll; gleichwohl befinden sich in der obersten Etage Götzenfiguren und ein Altar. Der Wanderer sucht diese Pagode um des Rundblickes willen auf, der sich hier bietet; denn zu Füßen liegt die Stadt, deren Häusermeer der kaum wahrnehmbaren Gässchen wegen den Eindruck einer kompakten Masse macht, von den Armen des Perlflusses gleich Silberbändern durchzogen und umsäumt; endlos dehnen sich die Reisfelder über die Ebene hin; aus weiter Ferne winken blaue Höhen und Bergketten herüber; hinter uns steigen die traurigen Hügel der Gräber gegen die Weißen Wolkenberge an. Dem vor uns entrollten Panorama fehlt es an den lichten, lebendigen Farben, an den satten Tönen, welche üppige Vegetation hervorbringt, an den fesselnden Gegensätzen, und dennoch macht es Eindruck. Das Auge schweift, durch die Ungewohntheit, die Neuartigkeit des Bildes von Stadt und Landschaft angezogen, in dem weiten Rahmen von Punkt zu Punkt; die matten Tinten, in welchen das Bild gehalten ist, verleihen demselben, harmonisch ineinander fließend, eigentümliche Anziehungskraft.

Mr. Drew hatte in seiner Fürsorge den Augenblick vorhergesehen, in welchem das Interesse an den Sehenswürdigkeiten Kantons hinter dem näher liegenden Streben, den allmählich sich einstellenden Hunger zu stillen, zurücktreten würde, und ließ uns nun ein Frühstück in einem der Nebengebäude des Kun-jem-Tempels servieren. In trauter Nachbarschaft mit verschiedenen Buddhas ruhten wir hier und schöpften aus dem Imbisse neue Kraft.
Uns der Stadt und dem, was sie bietet, wieder zuwendend, besahen wir die Wasseruhr, welche aus dem 3. Jahrhunderte n. Chr. stammt und Gegenstand des Stolzes der Bewohner Kantons ist. Drei Metallgefäße, in welche aus Felsen hervorrieselndes Wasser geleitet wird, sind hier stufenförmig übereinander angeordnet, und der Wasserüberfall aus dem einen dieser Gefäße in das andere ist derart geregelt, dass der Niveaustand in dem untersten Gefäße mittels eines Indikators die Stunden angibt.

Da ich wünschte, einer der berüchtigten chinesischen Gerichtsverhandlungen anzuwohnen, wandten wir uns nach dem Gerichtshaus, wo wir jedoch die Verhandlungen bereits geschlossen fanden, so dass wir dieses Projekt auf morgen verschieben mussten und als vorläufigen Ersatz das bei dem Amtsgebäude befindliche Gefängnis besichtigten. Dieses präsentiert sich als länglich-viereckiger, niedriger Bau, der mehrere mit Höfen versehene, aneinandergrenzende Flügel enthält, in welchen größere und kleinere, an Scheunen erinnernde Zellen angeordnet sind. Wir betraten zunächst die Abteilung für Frauen, die, mit Ketten gefesselt, in einer Zelle zusammengepfercht waren; der Raum, der in demselben starrende Schmutz, die scheußlichen Gerüche, welche uns entgegenströmten, das verkommene, verwahrloste Aussehen der Gefangenen vereinigten sich zu einem geradezu abschreckenden Eindruck; die elenden Geschöpfe flehten in wahren Jammertönen um Almosen. Männliche Häftlinge, die gleichfalls gefesselt waren, trafen wir in einem Hof, an dessen Gitter sie sich herandrängten, um, die Hände hindurchstreckend, eine Gabe zu erhaschen; die Physiognomien einzelner trugen den Stempel des Verbrechertums, der Verworfenheit an sich. Die schwereren Missetäter befanden sich in einer beinahe dunklen Zelle und waren einer Verschärfung der Strafe unterworfen, indem sie aus gewichtigen, viereckigen Brettern angefertigte Kragen, Kia-(Gja-)dsy genannt, auf welchen der Name des Verbrechers und dessen Übeltat ersichtlich gemacht ist, um den Hals zu tragen hatten. Diese Strafverschärfung bildet eine arge Tortur, da der Kragen seinen Träger hindert, zu liegen und zu schlafen, so dass es den Sträflingen nur durch Anwendung besonderer Hilfsmittel gelingen soll, sich ungeachtet dieses Marterwerkzeuges etwas Ruhe zu verschaffen. Der Eindruck, welchen der Besucher hier empfängt, ist ein nicht minder abstoßender als in der Frauenzelle; die Gefangenen leiden offenbar auch da am meisten unter dem Unrat, welcher die Zellen erfüllt, dem pestilenzialischen Gestank und, wie die Frauen, unter dem Mangel an Nahrung.

Eine eigentümliche Beobachtung konnten wir am Tor des Gerichtsgebäudes machen. Das Gesetz verbietet in China strenge jedes Hazardspiel, eine Anordnung, die bei dem leidenschaftlichen Hang der Chinesen für Glücksspiele aller Arten in Verbindung mit der Korruption, welche unter der Beamtenschaft herrscht, ein friedliches Leben auf dem Papier führt; aber dass gerade der Eingang in das Gerichtsgebäude als passende Stelle für die Errichtung von Buden erkoren werden konnte, in welchen das Hazardspiel unter den Augen der täglich ein- und ausgehenden obrigkeitlichen Personen floriert, ist ein Beleg dafür, dass die Bestechlichkeit der behördlichen Organe mit Schamlosigkeit gepaart ist.

An dem durch zwei Flaggenstangen gekennzeichneten Haus des Vizekönigs vorbeikommend und zwei Straßen durchschreitend, erreichten wir den Tempel der Schrecken. Reges Leben, ab und zu selbst arges Gedränge herrschten vor dem Gotteshaus, das aus einer Reihe von Bauwerken besteht, deren einige für die hier ihres Amtes waltenden Priester bestimmt sind. Mehrere Zahnbrecher haben hier Buden aufgeschlagen und diese in weder appetitlicher, noch einladender Weise mit Hunderten gerissener Zähne, welche auf Schnüren aufgereiht sind, geschmückt; Verkäufer von Esswaren und Wechsler trachten Geschäfte zu machen; reihenweise sind bis ins Innere des Tempels Wahrsager etabliert, welche teils aus den Gesichtszügen der an ihre Kunst Appellierenden —. die Physiognomik erfreut sich in China einer hohen Blüte — teils nach Würfeln, die aus einer Schildpattschale geworfen werden, die Zukunft eröffnen; auch die uns schon bekannten Formen der Entschleierung der Zukunft sind in lebhafter Übung; jeder Schicksalsspruch wird rasch mittels Tusches auf farbiges Papier gepinselt und dem Fragenden überreicht. Zu all diesen abgefeimten Schwindlern, die hier ihr Unwesen treiben und ihre Kunst auf großen, oberhalb kleiner Tische befestigten Tafeln anpreisen, drängt sich das lärmende Volk in hellen Scharen herbei. Bettler aller Arten flehen in dem Gewühl um milde Gaben.

Der Tempel hat seinen Namen daher, dass im Hintergrund der Tempelhalle rechts und links in kapellenartigen Nischen, die man mittels Gitter abgeschlossen und in mystisches Clair-obscur getaucht hat, Darstellungen der in der buddhistischen Hölle im Gebrauche stehenden Strafen enthalten sind. Dem Sünder, welcher durch Vorführung der seiner harrenden Martern erschüttert und abgeschreckt werden soll, wird in einer Reihe von sehr realistisch gehaltenen Bildern die Abkochung in siedendem Öl, die Zermalmung, die Zerquetschung zwischen Brettern, die Zersägung, die Verwandlung in Tiere u. dgl. m. dargestellt. Die hier entrollte, wenig einladende Perspektive scheint ihre Wirkung auf die abergläubischen Chinesen nicht zu verfehlen, wie wohl aus dem zahlreichen Besuch, dessen sich der Tempel erfreut, und aus den allenthalben angebrachten Votiv- und Beschwichtigungszetteln geschlossen werden darf.
Von diesem Ort der veranschaulichten Qualen führte der Weg nach einem solchen wirklicher Folterung — nach den Prüfungshallen, Kung-jün (Gong-jue’i’n) genannt. Die verschiedenen literarischen Grade werden durch die erfolgreiche Ablegung von Prüfungen erworben, welche zu den wichtigsten Elementen der chinesischen Staatseinrichtungen gehören, da jene gleichzeitig auch die Fähigkeit zur Erlangung von Staatsanstellungen verleiht. Das Examen für den ersten Grad wird alle anderthalb Jahre im ganzen Reich und zwar in den Hauptstädten der Präfekturen, jenes für den zweiten Grad jedes dritte Jahr und nur in den Hauptstädten der Provinzen abgehalten, während sich die Kandidaten den Prüfungen für die Erlangung des dritten und des vierten Grades in der Reichshauptstadt unterziehen. Am achten Tag des achten Monates beginnen in dem betreffenden Jahre die Prüfungen für den zweiten Grad, zu welchen sich mitunter bis zu 10.000 Kandidaten melden.

Durch mehrere Tore geht der Pfad in eine breite Avenue, an deren Ende auf freiem Feld in langen Reihen Zellen, 11.616 an der Zahl, aus Stein und Lehm erbaut und jede etwa 1,5 Flächenraum umfassend, angeordnet sind, in welchen die Kandidaten unter strenger Klausur durch mehrere Tage die schriftlichen Arbeiten auszuführen haben; Wächter sorgen dafür, dass keinerlei Unterschleif stattfinde. Längerer Aufenthalt in diesen Zellen muss, auch wenn es nicht gilt, sich der Pein einer Prüfung zu unterziehen, nicht eben zu den Annehmlichkeiten des Lebens gehören. In der Mitte des von den Zellenreihen gebildeten Raumes erhebt sich eine Halle, in welcher sich die Prüfungskommission versammelt, der unter anderen auch zwei aus Peking entsandte Mitglieder angehören, — ein Beweis der Wichtigkeit, die man diesem Examen beilegt.

Die Kandidaten, welche die Prüfung bestanden haben, sind Gegenstand besonders auszeichnender Behandlung, indem sie dekoriert und bei einem offiziellen Bankette gefeiert werden. Der erzielte Erfolg wird so hoch angeschlagen, dass er auch der Familie und Verwandtschaft des Kandidaten einen gewissen Glanz zu verleihen vermag und die ganze Sippe in freudige Aufregung versetzt, die in großen, bei der Rückkehr des Approbierten in die Heimat abgehaltenen Festen zum Ausdruck kommt. Um die Erlangung der literarischen Grade durch Ablegung der Prüfungen kann sich jedermann, wes Standes und Ranges er sei, — mit Ausnahme der Kinder von Schauspielern u. dgl. m. — bewerben. Hierin zeigt sich eine demokratische Gleichheit aller vor den Staatseinrichtungen; doch hat dieselbe bald ein Ende. „Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt“; die Prüfung für den zweiten Grad bestehen vor jeder Kommission immer nur etwa 100 Kandidaten, welche nicht immer die besten den Leistungen, als vielmehr der Fähigkeit nach sein sollen, sich die Gunst der Prüfenden zu erwerben.

Jedenfalls ist es verwunderlich, dass Prüfungen über literarische Kenntnisse den Weg zu den Stellen im öffentlichen Dienste, sei es Zivil-, sei es Militärdienst eröffnen, und auch das geforderte Maß dieser Kenntnisse geht über die Beherrschung der Sprache, der Schrift und einige Bekanntschaft mit den Klassikern nicht hinaus. Was bei uns zu den Rudimenten der Bildung gehört, macht daher in China den Inbegriff der Weisheit und Vorschulung für den Staatsdienst aus, eine Absonderlichkeit, die einigermaßen aus der Schwierigkeit erklärlich wird, welcher die Erlernung und Beherrschung des Chinesischen in Wort und Schrift begegnet; die Zahl der Schriftzeichen wird auf 40.000 bis 50.000, ja selbst bis auf 100.000 geschätzt.

Am Schluss des heutigen Rundganges kam die Besichtigung der Richtstätte an die Reihe, eines für die Handhabung der chinesischen Kriminaljustiz wichtigen Ortes, da der Strafkodex in China mit Blut geschrieben ist. Kreuzigung und Zerschnittenwerden auf eine Unzahl von Stücken, — bei mildernden Umständen auf nur acht Teile — Enthauptung und Erdrosselung bilden die Kapitalstrafen des peinlichen Rechtes; doch scheint es, dass man sich gegenwärtig mit den minder grausigen Formen derselben, namentlich mit dem Hängen und Köpfen, begnügt. Von der körperlichen Züchtigung wird reichlicher Gebrauch gemacht und zwar durch Schlagen mit Bambusrohren sowie in Form der Bastonnade; diese Strafen können in fünf verschiedenen Graden der Verschärfung appliziert werden. Andere Strafen bilden die Verbannung in fünf Abstufungen der Dauer nach und die Transportation auf Lebenszeit in drei Graden der Entfernung. In der letzten Zeit betrug die Zahl der Hinrichtungen in Kanton durchschnittlich im Jahre 300, im Jahre 1855 sollen jedoch 50.000 Todesurteile vollstreckt worden sein. Während des Monates, in welchen unsere Anwesenheit fällt, finden keine Exekutionen statt; gleichwohl verrät die Richtstätte ihre Bestimmung in gruseliger Weise, da die Köpfe der Delinquenten daselbst in irdenen Töpfen aufbewahrt werden, was wenigstens auf die der buddhistischen Lehre huldigenden Chinesen einen nicht wenig abschreckenden Eindruck machen muss; denn diese fürchten jede Verstümmelung in dem Glauben, dass dieselbe sich auch auf die Erscheinung des Körpers im Jenseits erstrecken werde. Ebenso muss die übliche Verscharrung der Leichname Gerichteter den Chinesen, da diese dem Ort der Bestattung für das Glück des Abgeschiedenen in der besseren Welt so große Bedeutung beilegen, ein Greuel sein.

Der Henker kam mir auf der Stätte seiner Wirksamkeit entgegen; er war schwarz gekleidet und schien in seinen finsteren, harten Zügen das düstere Handwerk, dem er obliegt, zu spiegeln. Der Nachrichter hob von einigen der ominösen Töpfe die sie bedeckenden Strohbündel ab, worauf mir die Köpfe der Justifizierten, und zwar sowohl ziemlich gut erhaltene als auch gebleichte Schädel, entgegengrinsten. Ich ließ den Mann durch Generalkonsul Haas unter anderem befragen, ob er sich der Zahl seiner Opfer entsinne, worauf er erwiderte, dass dies wohl nicht der Fall sei, die Zahl der von ihm Gerichteten aber etwa 1000 betragen dürfte. Der Kerl roch, dampfte und troff von Blut — so wenigstens schien es mir — und bot das Werkzeug seines Waltens, das kurze breite Schwert, mit dem er im abgelaufenen Monate dreißig Piraten gerichtet hatte, zum Kauf an.

Recht ermüdet und erfüllt von der Menge ungeahnter Eindrücke, kamen wir endlich wieder auf Scha-mien in Mr. Drews Villa an, wo wir Coudenhove antrafen, welcher, aus Bangkok kommend, uns endlich die seit vierthalb Monaten ersehnte Post überbrachte. In größter Hast und mit den freudigsten Gefühlen wurden die Briefe geöffnet, die Zeilen verschlungen, manch freudige, manch schmerzliche Kunde vernommen. Ich fand mich durch die Zahl der Briefe enttäuscht, da ich deren mehr erwartet hatte. Nicht wenige Freunde und Bekannte mögen wohl unterlassen haben, Nachricht zu geben, glaubend, dass die Fülle dessen, was sich auf der Reise bieten würde, Botschaften aus der Heimat nicht vermissen lassen könne. Wie schlecht beurteilen jene, die auf vaterländischem Boden weilen, die Macht der Heimat, die auch in weiter Ferne an sich fesselt! Die Erinnerung an das Vaterland, an alle, die dort zurückgeblieben, bleibt frisch und lebendig, keinerlei Eindrücke vermögen jene verblassen zu machen, und jedes Blatt, jede Zeile, jedes Wort aus der teueren Heimat ist ein tief ins Herz dringender Gruß.

Leider hatte die Post manchem der Unsrigen an Bord der „Elisabeth“ recht traurige, unser Mitgefühl erregende Botschaft gebracht; so hatten der Kommissariatsadjunct Pietzuk und der älteste Seekadet Sternhardt den Tod ihrer Väter, unser braver Bootsmann Zamberlin jenen seines ältesten Sohnes, auf den er seine ganze Hoffnung gesetzt, erfahren. Erst wenige Tage zuvor hatte ich dem wackeren Mann versprochen, mich für die Aufnahme dieses Sohnes in eine Kadettenschule zu verwenden.

Der Abend des Tages war einem kulinarischen Kuriosum, einem original-chinesischen Diner gewidmet, welches ein reicher chinesischer, des Englischen teilweise mächtiger Beamter, der Mandarin Ho. auf einem großen Blumenboot veranstaltet hatte. In dem im ersten Stockwerk eines Blumenbootes gelegenen Speisesaal, welcher sich durch luxuriöse Einrichtung und reiche Ausschmückung mittels Blumengirlanden auszeichnete, war die Tafel gedeckt, zu der sich außer mir und dem Gastgeber sowie Mr. Drew noch meine Herren, Kommandant Becker, die anderen Herren vom Stab, Generalkonsul Haas, ferner die Herren Lange und Goetz eingefunden hatten. Alles, das Service, insbesondere das Besteck, nämlich die bekannten elfenbeinernen Stäbchen, und das Menu waren original-chinesisch. Der uns ungewohnte Gebrauch der Stäbchen rief viel Heiterkeit hervor, da wir uns in der Handhabung derselben recht unbeholfen erwiesen und endlich zu einem noch viel einfacheren Hilfsmittel unsere Zuflucht nahmen — zu den Fingern.

Das höchst merkwürdige Mahl bestand aus folgenden Gängen: 1. Frische Früchte; 2. getrocknete Früchte; 3. Früchte mit Blumen; 4. eingemachte Früchte; 5. kandierte Eier; 6. kandierte Birnen; 7. Mandarin-Vogelnestersuppe; 8. Schneemorchelsuppe; 9. Taubeneiersuppe; 10. gebratene Haifischflossen; 11. gebratene Fasanen; 12. Fischmagensuppe; 13. gebratene wilde Enten; 14. gebratene junge Bambus; 15. verschiedene Kuchen; 16. Nierensuppe; 17. frische Pilze; 18. gebratene Fische; 19. Hammelbraten; 20. Ragout von Haifischflossen und Beche de mer (Trepang); 21. Wildragout; 22. Pilze mit Gemüsen; 23. Liliensamen, frisch und kandiert; 24. verschiedene kleine Kuchen und Dessert. Weine und Liqueure fehlten selbstverständlich auch nicht.

Wie sich aus dem Menu zeigt, handelte es sich eigentlich um zwei vollständige Diners, deren Bewältigung auch entsprechend lange Zeit, nämlich drei Stunden erforderte. Obschon ein nach chinesischen Begriffen vorzügliches Mahl serviert worden war, konnten wir der Küche Ostasiens doch keinen Geschmack abgewinnen, ja das Hinabwürgen einzelner Gerichte kostete geradezu Überwindung. Die vielgerühmten Vogelnester und die Haifischflossen, die beiden Pieces de resistance des Diners, schmeckten ziemlich ähnlich, nämlich klebrig und tranig; die übrigen konsistenteren Speisen zeichneten sich, wie verschieden auch die Ingredientien sein mochten, durch einen und denselben undefinierbaren Geschmack aus. Als Originalgetränke wurden ungezuckerter Tee und ein sogenannter Wein serviert, der sich aber als scharfer Liqueur erwies und uns gar nicht mundete, was den Gastgeber in weiser Voraussicht veranlasst hatte, für die Würze des Mahles durch einige Flaschen Champagner zu sorgen.

Etwa 20 reichgeschmückte und reichgeschminkte, junge Mädchen besorgten die Bedienung, das heißt sie setzten sich im Kreis hinter uns nieder und betrachteten uns, manchmal über unsere Ungeschicklichkeit beim Gebrauch der Stäbchen lächelnd. Mir war eine „Pfirsichblüte“ (Tao-hoa) zugeteilt worden, die sich allen Vorgängen gegenüber sehr teilnahmslos verhielt und nur von Zeit zu Zeit einen kleinen Spiegel hervorzog, um sich wohlgefällig zu beschauen und ihre Schminke zu erneuern. Auch 12 Schalen des starken chinesischen Weines, die ich von der Blüte leeren ließ, und eine von mir eigenhändig vorgenommene Fütterung mit Lotosblumenkernen brachten auf die Gemütsstimmung der Schönen keine Wirkung hervor; knuspernd, im übrigen unbeweglich wie eine Pagode, saß sie da, bis die Reihe an sie kam, den anderen Damen gleich unsere Ohren durch greulichen, von einer quiekenden Musik begleiteten Gesang zu martern. Um den Künstlerinnen eine Ahnung von der Wirkung ihres Gesanges beizubringen, ahmten wir denselben nach und begleiteten uns hiebei durch Schläge auf einen Gong, worüber die Chinesinnen zuerst sprachlos vor Erstaunen waren, um dann in ein schallendes Gelächter auszubrechen, das aber bald wieder ihrer phlegmatischen Ruhe wich. Die fortgesetzten musikalisehen Produktionen wirkten so erregend auf unsere Nerven, dass ich schließlich den Sängerinnen durch den Dolmetsch sagen ließ, ich fände zwar ihre Leistungen wunderschön, ja ganz vorzüglich, bäte die Damen aber mit aufgehobenen Händen, davon endlich abzulassen. Wahrscheinlich waren sie in ihrem Innern über die Barbaren, welche ihre Kunst nicht würdigten, sehr entrüstet; doch hatten wir unseren Zweck erreicht und konnten uns nun ungestört den kulinarischen Genüssen zuwenden.

Ganz eigentümlich schien uns anfänglich der Gebrauch, dass während des Diners nach jedem Gang den Mitgliedern der Tafelrunde von den Mädchen heiße Tücher gereicht wurden, bestimmt, auf den Kopf gelegt zu werden; bald aber mussten wir die wohltuende Wirkung dieser Sitte anerkennen, da hiedurch eine äußerst angenehme Abkühlung erzielt wurde, die in dem der Ventilation entbehrenden Raum doppelt willkommen war.

Nachdem unsere Magen durch die glückliche Bewältigung des Mahles eine Probe ihrer Leistungsfähigkeit abgelegt hatten, nahm ich von der noch immer Lotosblumenkerne nagenden Pfirsichblüte . Abschied, um nach dem Blumenboot zu fahren, dessen Zierde unser krähender Freund ist. Leider hatte dieser sich offenbar von seinen Penaten nicht trennen können, ich traf ihn auf der Stätte, wo er seinen Humor zu entfalten pflegt, nicht an und kehrte nach dem freundlichen Scha-mien zurück, um bis tief in die Nacht der Lektüre der Postsendung zu obliegen.

Links

  • Ort: Kanton
  • ANNO – am 24.07.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater ein Ballet „Sylvia, die Nymphe der Diana“ aufführt.

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